1. Kapitel
Vernem schleifte den leblosen Körper ächzend hinter sich her. Wer er war? Irgendwer, ein Bauer oder ein Knecht, jemand auf dem Weg halt. Er war zur falschen Zeit am falschen Ort, aus seiner persönlichen, jetzt nicht mehr relevanten, Sicht. Genau genommen war seine Sicht zu keiner Zeit relevant gewesen. Nicht im Leben, und schon gar nicht jetzt im so nützlichen Tod. Er war nur deutlich zu fett. Das hatte Vernem nicht bedacht, als er seinen Dolch in den Rücken des schlicht, fast schmucklos gekleideten Fremden rammte. Jetzt freilich war das etwas anderes. Doch Zeit, auf dieser mit grauem Stein gepflasterten, sich die sanften Hügel des Geländes hinauf und hinab windenden Straße durch den nicht enden wollenden, tiefen Wald von Djambu, ein neues Opfer zu suchen, und den armen Wicht dann am Waldrand hinter der ersten Baumreihe hinauf auf den Hügel zu schleppen, gab es einfach nicht genug. Das alles hier musste viel schneller gehen, wollte er nicht in einem eisernen Käfig vor den hohen, grauen Steinmauern der Stadt Melen verrotten, nur so zur Belustigung des Volkes, das sonst nichts zu lachen hatte. Verdammt, nur noch so wenig Zeit! Er musste sich beeilen, nicht in Selbstmitleid vergehen!
Als er den Baum am Wegesrand erreicht hatte, den er benutzen wollte, band er das Seil, das dahinter versteckt lag, geschickt um den Körper des Toten. Als er ihn anhob entwich geräuschvoll die Luft aus den Lungen, und Vernem wäre um ein Haar vor Schreck gestorben. Niemand hatte ihm gesagt, dass Tote solche Dinge konnten. Er begann seinen so wasserdichten Plan wortgewaltig und sehr bildhaft zu verfluchen, danach warf er das andere Ende des groben, drei Finger starken Seils über einen hohen Ast. Er nahm eine Tasche auf und kletterte mit Hilfe des Seils schnell und geschickt in den mächtigen Baum. Oben angekommen zog er seinen nicht ganz so stummen Gefährten hinauf und plazierte ihn neben sich, an den Stamm gebunden. Der Tote roch mittlerweile etwas streng, offensichtlich hatten Blase und Darm sich entleert. Angewidert packte Vernem den Bogen aus und balancierte auf dem Ast bis an den Punkt, an dem er freies Schussfeld auf die Straße hatte.
Gerade noch rechtzeitig in Position, sah er die Prozession den Weg hinauf reiten. Vorne weg ritt er, der Sohn des Großkaisers. Der musste weg, damit alles seinen Weg gehen konnte. Djeven Seggoy Sen III. sah sich als Imperator Maximus, auf allen Münzen, die er hatte schlagen lassen, befand sich hinter seinem Namen und um sein Abbild herum die Abkürzung IMP.MAX. Vernem fand allein das lästig und ärgerlich, schon aus diesem Grunde mussten die Seggoy Sen weg, die seit etwa 200 Jahren unangefochten an der Macht waren. Der Meuchelmörder legte einen Pfeil auf die Sehne – er hatte nur diesen einen Schuss – und zielte ruhig und mit Bedacht. Der Sohn des Großkaisers war nun gefährlich nah heran. Vernem wusste das und musste sich entscheiden, ob er den Mumm hatte, einen so mächtigen Angehörigen der Elite seines Staates zu ermorden, oder ob er kneifen wollte. Sein Bauer war in dem Fall umsonst gestorben. Verbissen zog der langhaarige Mörder die Sehne bis zum stoppeligen Mundwinkel seines seit Tagen unrasierten Gesichts und ließ los.
„Friss Scheiße!“, fauchte er leise, und seine grünen Augen unter den dichten, schwarzen Brauen funkelten.
Es war keine Zeit, das Ergebnis zu bewundern oder auch nur abzuwarten, was geschehen war. In jedem Fall würde er nun der Gewinner sein. Er ließ den Bogen achtlos fallen, löste mit einer schnellen Handbewegung den Knoten, der den übel duftenden Erstochenen am Stamm gehalten hatte, stieß den Leichnam vom Baum und ließ sich selbst so schnell er gefahrlos konnte am Seil herab. Dann rannte er los, zu auf die Reiter, die in diesem Moment die bewaldete Kuppe des kleinen Hügels erreicht hatten, von dem aus Vernem geschossen hatte. Wild winkte er und rief, er habe ihn erwischt.
„Der Wilderer ist tot, ich hoffe, sein Schuss konnte nichts anrichten!“, verkündete der Mörder laut und blieb stehen. Zu viel Hektik war jetzt gerade keine gute Idee. Die Reiter in ihrer schweren Rüstung, mit den langen Kettenhemden unter den blauen Waffenröcken und den länglichen, tropfenförmigen blauen Schilden, auf denen jedoch nicht das verhasste Wappen der Familie Seggoy des Hauses Sen in der Mitte prangte, wirkten nicht, als suchten sie einen Plausch. Ihre Körpersprache verriet vielmehr sie wollten jemanden töten, den Leichnam grausam schänden, verstümmeln und bis zur Unkenntlichkeit zerhacken. Und nur unglaubliches Glück des Opfers und ein Einschreiten der Götter würde sie diese Reihenfolge auch einhalten lassen. Vernem schluckte und stellte sich gerade hin, die Hände an den Oberschenkeln liegend. Auch das konnte die Laune der drei Reiter nicht aufhellen; sie senkte ihre Lanzen und machten Anstalten, Vernem in den Boden zu reiten. Der Mörder machte seinen Frieden mit seinen Göttern und verabschiedete sich vom ewigen Licht der Welt, in Erwartung der Dunkelheit, die ihn nun holen würde für den heimtückischen Mord an dem Bauern. Da bremste die Lust auf mehr die drei Ritter mit den wehenden blauen Mänteln. Ihre großen, langmähnigen Reittiere stiegen auf und standen dann dicht vor dem unbewaffneten Vernem, mit königlichen blauen Wimpeln besetzte Lanzen deuteten mit ihrem bösen, schwungvoll geflügelten Ende direkt auf die Brust des langhaarigen jungen Mannes. Links und rechts wurde die seltsame Gruppe von weiteren Reitern umrundet, von denen einige die Staatsstraße hinauf ritten und bis zum ermordeten Bauern kamen, der in sehr ungesund wirkender Verrenkung auf den Pflastersteinen lag, das Gesicht völlig verschwunden durch den Aufprall. Was für alle erkennbar blieb war der Griff des Dolches, der ihm aus dem Rücken ragte. Langsam bevölkerte sich die surrealistische Szene auf dem Hügel. Immer mehr Reiter kamen heran, später auch unberittene Lanzenträger. Niemand sprach, es herrschte eine seltsame Stille, die nur die schnaubenden Atemgeräusche der Aldjuqi, der zottelig wirkenden, großen braunen Reittiere der Chevaliers1, unterbrachen. Wer das Atmen vermied war Vernem, er versuchte so unbeteiligt wie eben möglich zu wirken.
Die Leiche wurde von zwei Männern in den prächtigen Roben der Berater umkreist, die von ihren Reittieren abgesessen waren. Dann besahen sie sich auch den Baum, erkannten das herabhängende Seil und den Köcher weit oben, kamen bis zum beim Aufprall gebrochenen Bogen und besahen sich wieder die Leiche. Sie gingen ein Stück fort von der Gruppe, verließen dabei die Staatsstraße und sahen sich um, deuteten in alle Richtungen und schienen sich ihre ganz eigenen Gedanken zum Tathergang zu machen. Vernem indes starrte noch immer auf die Spitzen der Lanzenblätter, die unmissverständlich auf seinen Oberkörper deuteten.
Bamain Syerdeqq und Simguq Olyamshudd, die beiden Berater des Prinzen, wandten sich der surrealen Szene zu. Die drei Chevaliers hatten ihre Lanzen auf den jungen Mann gerichtet, der kerzengerade vor ihnen stand und sich nicht getraute zu atmen. Entweder würde er bald sein Bewusstsein verlieren, oder die Ritter ihre Beherrschung. Die Reittiere der drei standen regungslos, als hätten sie mit der Situation nichts weiter zu tun und würden ihre Pause genießen. Sie waren erstklassig ausgebildet, wie auch die drei Reiter selbst. Sie wirkten auf den ersten Blick gelassen, und nur die bedrohliche Art, wie sie die Lanzen hielten, ließ jeden Zuschauer erkennen, dass es hier um Leben und Tod für den jungen Mann vor ihnen ging. Bamain blickte die Gestalt einen Moment an, dann hatte er seine Eindrücke gesammelt, und er wandte sich wieder Simguq zu, der schon wieder um den Baum herum schlich. Etwas war nicht richtig, fanden beide, konnten es jedoch nicht festmachen. Der tote Attentäter, der den Sohn seiner Hoheit mit einem einzigen Schuss ermordet hatte, trug einfache Kleidung, eher wie ein Knecht, ebenso wie der junge Mann, der von den Chevaliers in Schach gehalten wurde. Von beiden ließ sich die Kleidung nicht eindeutig einem Stand oder einer guylde2 zuordnen; ob sie zusammen gehörten? Ob der Überlebende seinen Partner nur getötet hatte, weil er keine Chance auf Entkommen gesehen hatte? Von der Straße aus war es eigentlich unmöglich, den Dolch in den Rücken eines Bogenschützen zu werfen, denn der Baum befand sich auf der linken Straßenseite, der Schütze jedoch musste Rechtshänder gewesen sein. Das zumindest deuteten seine Hände und die gesamte Fundsituation an. Daraus folgte dann, dass sein linkes Bein vorn gestanden hatte, und dass sein Rücken zum Wald, nicht zur Straße gewandt gewesen sein musste. Jeder noch so kühne Wurf jedoch würde von der Waldseite aus durch die Blätter und Äste der Bäume gekommen sein müssen. Vom Wald aus konnte man den Schützen auf dem Baum nicht einmal sehen. Nicht, wenn er dort gestanden hatte, wo Köcher und Seil es vermuten ließen. Bamain stellte sich mit seinem Kollegen und Freund Simguq ungefähr dort hin, von wo der junge Mann auf der Straße geworfen haben musste. Sie sahen sich an.
„Das geht ja wohl gar nicht, oder?“, fragte Bamain leise. Simguq schüttelte nur leicht den Kopf. „Und nun?“
„Nun beraten wir niemanden, alles ist durcheinander gekommen“, erwiderte der zweite Mentor des ermordeten Prinzen. „Wir haben ein Problem.“
„Nun ja, wir könnten es ernsthaft bekommen, wenn wir den Mann dort vorn bestialisch ermorden lassen“, sagte Bamain sanft. Simguqs Kopf ruckte herum; mit weit aufgerissenen blauen Augen starrte er mehr verstört als ungläubig den langjährigen Freund an. Was wollten diese Worte ihm sagen? Er entschloss sich, das als Frage zu formulieren.
„Ganz einfach“, begann Bamain leise, und der verschwörerische Unterton ließ nichts Gutes erahnen. „Zwar haben wir den Prinzen unterstützt und beraten, diesen Weg zu gehen, doch uns bläst ein derartiger Sturm entgegen, dass auch unsere Leben in Gefahr sind. Dort drüben steht eine Verbindung zur Gegenseite, sie scheint ihre Schritte genau überdacht zu haben. Wir können diese Verbindung durch die lapidare Formulierung der Wahrheit kappen, und uns selbst damit der Bedeutungslosigkeit überantworten, oder wir versuchen, an diese andere Seite zu kommen, um sie zu beraten. Wir stellen unser quasi vakant gewordenes Wissen zur Verfügung.“
„Die lapidare Formulierung der Wahrheit?“, entfuhr es Simguq. „Was, in aller Götter Namen, ist einfach an dieser Wahrheit?“
„Findest du es komplex?“
„Ich finde es erschreckend, ich empfinde es als bedrohlich, eine Veränderung nicht wirklich zum Besseren“, nickte Simguq, der sich tatsächlich existentiell bedroht fühlte. Das hatte nicht nur mit seinem nun für alle Zeiten weggebrochenen Einkommen zu tun, sondern auch und besonders mit der Tatsache, dass er als Ratgeber des ermordeten Prinzen genau genommen synonym war für dessen politische Bestrebungen. War der junge Prinz aus diesem Grunde getötet worden, bestand nur wenig Zweifel, dass die Hintermänner auch nach seinem Leben trachteten. Bamain schien das noch nicht realisiert zu haben. Daher sensibilisierte Simguq den Freund für dieses Problem.
Bamain, der genau mit diesen Hintermännern neue, gemeinsame Wege einschlagen wollte, nickte langsam und fuhr sich durch das kurze, graue Haar.
„Ja, genau, und daher benötigen wir den Attentäter oder seinen Freund“, nickte der Berater dann, als Simguq fertig war mit seinen Horrorszenarien und düsteren Blutorgien. „Er wird unser Signal sein, dass wir nicht die politische Linie des Prinzen vertreten. Ich bin sicher, der Mord hat etwas mit dieser Reise zu tun.“
Langsam begann Simguq den Kopf zu schütteln. Sein langes, weißes Haar wehte dabei hin und her. Es war dünn und bildete Strähnen, nichts was irgendwie anziehend wirkte. Bamain hatte das dem Freund auch schon gesagt, aber der Berater weigerte sich, die Haare kurz zu schneiden. Seine großen Ohren würden dann noch auffälliger vom Kopf abstehen als nun. Der kurzhaarige Berater fand jedoch nicht, dass sich das Bild verschlechtern ließ, selbst wenn die Ohren Simguqs bis zum Boden gereicht hätten. Am Hofe nannten die Bediensten ihn Fusselkopf, vielleicht eine zarte Andeutung, dass die Frisur sich ein wenig unter dem Optimum befand. Es war jedoch nicht so, dass der Berater sich der Lächerlichkeit preisgab durch seine nicht vorhandene Frisur. Das war die völlig normale Intoleranz gegenüber Andersartigem, und vorhersehbar am Hof von Melen, wo alle, aber auch wirklich alle die Haare kurz trugen. Bis auf Simguq, der das schon aus Prinzip durchgezogen hatte. Ein wenig Provokation, so fand er, stand ihm als Lehrer und Ratgeber des großkaiserlichen Sohns zu. Seine Position machte ihn bis zu einem gewissen Grad unangreifbar. Jedoch nur bis zu dem Augenblick, wo es den Prinzen noch gab. War der Leichnam beigesetzt – in Ija Tan pflegte man die Toten sehr zügig in ausgestreckter Rückenlage zu beerdigen, in Tüchern, Baumsärgen oder Särgen, je nach sozialer Stellung des Verstorbenen – würde es weniger als einen Tag dauern, bis die Reputation von der Realität eingeholt worden war. Dann hieß es: Auf und davon, eine neue Anstellung suchen.
„Ich denke nicht, dass Reise und Mord zusammen hingen“, gab Simguq Olyamshudd dann zu bedenken. „Es wird wohl eher so sein, dass hier die Möglichkeit einfach bestand, während am Hof immer Krieger um den Prinzen herum waren. Was wissen wir schon? Vielleicht ist der arme Wicht da vorn auch nur das Opfer, derjenige, den sie uns fangen lassen. Der wahre Täter ist über alle Berge, in die andere Richtung davon gerannt und dann durch den Wald.“
„Ja, so würden wir es machen, doch wir sind hoch gebildete Männer, die für jede Eventualität einen Ausweichplan einkalkulieren würden.“
„Was spricht dagegen, dass die Attentäter das nicht auch bedacht haben?“, fragte Simguq mit leicht provokantem Unterton. Es war dieses Timbre in der Stimme, diese eine Schwingung, die Bamain Syerdeqq aufhören ließ.
Ja, was sprach eigentlich dagegen?
Eine Weile standen sie im Wald und starrten vorüberziehenden Geistern hinterher. Sie sahen das Begräbnis des Prinzen, und sie sahen die Attentäter, wie sie in verschiedene Richtungen flohen, bald andere Kleidung anlegten und sich einreihten in das gesichterlose Heer der Mägde und Knechte, der Bauern, Bürger und Händler, und wie sich ihre Spur an den Stadttoren der nächsten Metropolen verlor.
„Die Städte!“, entfuhr es beiden gleichzeitig.
__________
1 Ritter.
2 Zusammenschluss eines Gewerkes, um die einzelnen Mitglieder besser unterstützen zu können.