Prolog
Ogiomur, den seine Gegner auch den Unsäglichen nannten, packte den Chronisten und umschloss ihn fest mit seiner Hand. Dieser unwürdige Wicht würde nun die Konsequenzen seiner Weigerung in aller Härte spüren. Ein Exempel musste statuiert werden, denn schon zu viele Kreaturen hatten sich gegen den Halbgott Ogiomur und die Seinen gestellt.
„Du kannst nur für mich sein, oder aber mein erbitterter Feind, Chronist!“, ließ er seine Stimme laut dröhnen. „Und da du es mit fadenscheinigen Begründungen abgelehnt hast, auf meiner Seite zu kämpfen, soll dir eine schreckliche Strafe gewiss sein!“
Ogiomur spürte sein Opfer in der Hand zucken. Doch die Feder konnte wenig ausrichten gegen seine Kraft. Dennoch verstärkte er ein wenig den Druck, und der Chronist blieb still in seiner Hand, aus Angst vor Verletzungen. Er wusste, dass es nicht mehr gut aussah für ihn, und dass der Halbgott sich eine für alle anderen Magischen Wesen besonders abschreckende Bestrafung ausgedacht hatte. Da war es vermutlich das kleinere Übel, wenn sein Schaft brach oder die Fahnen ausdünnten, weil die Rami ausgerissen wurden. Die Strafe würde sicherlich damit zusammen hängen, dass er nicht weiter schreiben durfte. Die Eindrücke, die auf ihn einstürzten, wollten jedoch verarbeitet werden, herausgelassen als nieder geschriebenes Wort. Das war seine Bestimmung, die Götter selbst hatten es so festgelegt. Das interessierte Ogiomur jedoch gar nicht; er hatte sich aufgelehnt gegen die Götter und wollte ein Heer ins Land Qeqesh führen, um die Macht ganz an sich zu reißen. Dass das nicht funktionieren konnte, war vielen Leuten klar, die sich von Ogiomur abgewandt hatten. Aller Krieg, den der Halbgott mit seinen Freunden beginnen konnte, würde auf der Oberfläche dieser Welt stattfinden, die ihnen von den Göttern als Reich zur Verfügung gestellt worden war. Und er würde zwischen den beiden Parteien ausgetragen werden, in die sich die Halbgötter und Magischen Wesen aufgeteilt hatten. Da waren auch noch andere Kreaturen, magisch zu nichts in der Lage und einfache Bauern, sie waren klein und schwach, doch sie sollten auch in das Lager des Ogiomur gedrängt werden. Einzig hatten sie erkannt, dass ein solcher Krieg für sie von keinerlei Nutzen sein konnte. Ogiomur versprach ihnen vollmundig mehr Macht, Zugriff auf die magische Energie, die überall um sie herum war, doch die unbedeutenden Kreaturen – Schöpfungen der Götter, wie wahrscheinlich sie selbst alle auch, nur in einer jüngeren und weniger mächtigen Form – lehnten dankend ab. Ogiomur hatte daraufhin beschlossen, diese Wesen zu nichts weiter als zu Sklaven zu machen, sollte er die Macht wieder erlangen.
An dieser Stelle begann der Chronist, sich Gedanken zu machen. Zum Einen würde das auf Ogiomur den Eindruck machen, er füge sich in sein Schicksal, zum Anderen gab es nichts, was er sonst hätte tun können. Da war kein Papier, da war keine Tinte. Die Eindrücke würden warten müssen, sich in ihm stauen, bis Ogiomur ihn wieder losließ und in die Nähe seiner Umgebung ließ. Aísha, eine Göttin aus der Familie der Udun, hatte ihm dieses Schreibzimmer eingerichtet. Zwei Priesterinnen kümmerten sich darum, dass immer Papier und Tinte vorrätig war, so dass der Chronist jeder Zeit alles verfassen konnte, was ihn gerade bewegte. Und ihn bewegte viel in diesen Tagen. Auch und besonders die Vision, dass die Armeen des Ogiomur geschlagen wurden, und die Überlebenden gejagt wurden von einer Göttin, die nicht eher ruhen würde, bis der Letzte von ihnen aufgespürt und seiner gerechten Strafe zugeführt worden war. Gerecht in den augen der Götter dieser Welt, und diese Ansicht würde auch ein Ogiomur zu akzeptieren haben. Zwar sah der Chronist nicht den Tod des Gegners, wohl aber den vieler seiner Mitstreiter. Und er fand keinen Grund, etwas über einen von ihnen zu schreiben. Sie würden unter gehen, verschwinden vom Antlitz dieser Welt. Der Halbgott hatte noch nihct verstanden, dass er sich gegen seine Herren auflehnte, die viel weiter über ihm standen, er als es in der Lage war sich vorzustellen.
„Chronist, darf ich dir dein neues Heim vorstellen?“, tönte die nach Hohn klingende Stimme Ogiomurs da und riss die Feder aus ihren Gedanken. Der Halbgott öffnete die Hand und hielt den Chronisten nur an der Spule. Er zwang sein Opfer in eine Holzkiste, die von innen mit Metallplatten ausgeschlagen war. Das Material war nicht poliert oder anders verschönt worden. Es war so schwarz und rau, wie es vom Amboss gekommen sein mochte. Die Nägel, die alle Eisenplatten mit der Holzkiste verbanden, waren ebenfalls von einer groben Machart. Auch ohne ein Auge konnte der Chronist sehen, was ihm zugedacht worden war. Zwar nur auf einer magischen Ebene, doch immerhin hatte er alle Bilder vor sich. Das konnte nicht Ogiomurs Ernst sein, er konnte doch den Willen der Götter nicht derart missachten …
Ogiomur konnte. Er legte den Chronisten in die Kiste und schloss den Deckel. Danach machte er ein schweres Schloss daran und trug das hölzerne Behältnis eigenhändig hinaus und durch die Ebene. Es gab ein paar Höhlen in diesem sinnlos geformten Gebirge, von denen eine abgelegen genug sein mochte, die Zeitalter zu überdauern, bis der Chronist vergangen war. Als er einen Felsspalt gefunden hatte, der ihm geeignet erschien, trug er den Sarg mit dem vor Angst zitternden Chronisten hinein und stellte ihn in eine Ecke. Er besah sich sein Werk, schüttete die kleine Kiste sodann mit Steinen und Sand vom Höhlenboden zu und verließ den Ort, an dem der Chronist nun vergehen würde.
Der Gefangene hatte anfangs noch versucht, mit seinem Kiel vorsichtig über das Metall zu kratzen. Das machte nichts weiter, als dass es schmerzte und Horn von seinem Kiel abtrug. Nach einer Weile war diese Wunde verheilt, und der Chronist versuchte es erneut. Sollte er diesen Vorgang nur lange genug wiederholen, so mochte er die metallene Innenhülle zu durchschneiden. Er hielt inne. Welch martialischer Begriff für eine Handlung, die vermutlich mehrere hunderttausend Jahre dauern würde. Würde ein Insekt von Außen auf der Kiste landen, täglich und immer an derselben Stelle, würde es vermutlich schneller durch das Material gelangen, als der Chronist von innen.
Der einzige Vorteil, und Ogiomur hatte das nicht bedacht sondern das Gegenteil beabsichtigt, war zweifellos, dass die Eindrücke, wie der Chronist die auf ihn einstürzenden Informationen nannte, nur sehr gedämpft durch die Wände seines Gefängnisses zu dringen vermochten. Immer mal wieder staute sich der Zwang in ihm auf, etwas aufschreiben zu müssen, doch dieser Wunsch verging mit der Zeit. Der Eindruck in ihm verblasste auch wieder, und so widmete sich der Chronist weiter dem verzweifelten Versuch, das Metall zu schwächen, um aus der Kiste ausbrechen zu können, immer und immer wieder. Jahr um Jahr und Jahrhundert um Jahrhundert. Und so zogen die Zeitalter ins Land.
1. Kapitel
Südlich der Lande Lin lag ein in den Augen der Sa-i-Tse der Republik Lin seltsames Gebiet, dicht bewaldet und nur dünn besiedelt, und doch voller Unruhe. Als Puffer zwischen Lin und dieser Region ohne eine staatliche Struktur befand sich Mendish Alquan, ein Stadtstaat, der sich vom Steilwandgebirge im Westen bis zum 2500 Tausendschritt1 entfernten Porioman im Osten entlang des Flumen2 Letiqa ausgebreitet hatte und die südlichen Ufer von Letiqa und des aus dem Porioman entspringenden Flumen Herboq besetzt hielt. Die Sa-i-Tse hielten diese Zone, wie sie Mendish Alquan gern abfällig nannten, für einen geeigneten Abstandshalter zwischen sich und dem wilden Süden dort unten am Flumen Elviq. De facto sahen die Völker am Elviq und seinen Zuflüssen Mendish Alquan im Allgemeinen und den Flumen Letiqa im Besonderen als durchaus geeigneten Schutz vor den machthungrigen Sa-i-Tse vom Stamme der Dijach, die in den vergangenen Jahrhunderten alle anderen Völker nördlich des Letiqa unterworfen und versklavt hatten.
Lebensader von Mendish Alquan war die via3 Grovanir, die sich am Ufer des Flusses Letiqa entlang zog. Sie überspannte den Zulauf des Flumen Jortiq ebenso mit einer Brücke, wie den im weiteren Verlauf südlich zum Niederelviq fließenden Letiqa, um sich am Südufer des im Brückenbereich einmündenden Flumen Herboq bis zu den Ausläufern des Porioman zu erstrecken. Kleine Warenumschlagplätze waren bei den mächtigen Brücken entstanden und existierten mehr schlecht als recht von der Gnade der Herren von Mendish Alquan. Zwar besaßen sie, erteilt in einer generösen Geste, den Status der Niederlage4, doch den nicht sehr kaufkräftigen Knechten, Mägden und Sklaven brachte diese Wendung keinen Vorteil. Sie sahen die Waren einmal ausgebreitet auf einer Decke und dann wieder verschwinden. Im besten Fall hatten sie Gelegenheit, sich am Anblick der schönen Dinge kurz zu erfreuen. Im fünften und im elften Mond eines jeden Jahres wurde ein großer Markt ausgerichtet. Beide Orte hatten auch dieses Recht vom Herrn aus Mendish Alquan erhalten, und wähnten sich schon als Flecken oder Minderstadt. Doch beide Positionen wurden den Orten im Edikt ausdrücklich abgesprochen. Sie waren und blieben nichts weiter als kleine Warenumschlagplätze, von denen der östlichere, mit Namen Ulsham Idd, noch das größere Los gezogen hatte, trafen hier doch die Waren vom Niederelviq zuerst ein. Es handelte sich um Dinge, die entweder vom Meer im Osten oder den Städten am Elviq, respektive seinen Zuflüssen, stammten. Darunter waren auch Diamanten und wertvolle Geschmeide, die für den Hof von Mendish Alquan gedacht waren, und die von Djambu am Flumen Vetshiq stammten.
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1 1250 Kilometer; 1 Tausendschritt sind 500 Meter, basierend auf einem als Durchschnitt festgelegten Schrittmaß von 50 Zentimetern.
2 Fluss.
3 Straße.
4 Ort, an dem Händler ihre Waren anbieten müssen. Niederlage ist ein Begriff der Iurisprudens und kommt vom nieder legen der Waren, womit der Händler eine Aufforderung zur Abgabe eines Angebotes (so genannte Invitatio ad offerendum) macht.