Prolog
Adaldjoq, der die Nachhut der Handelskarawane bildete, spürte die Präsenz im letzten Moment. Geduckt fuhr er herum und schaffte es, seinen Rundschild am ausgestreckten Arm hochzureißen. Während er einen Warnlaut ausstieß und das kurze Hiebschwert zog, schlugen zwei Pfeile in seinen Schild und ragten weit auf seiner Seite heraus. Der Krieger schluckte nur und ging rückwärts zum Loshon1, an dem ein Ersatzschild hing. Um ihn herum brach ein Tumult aus. Schreie, das Klirren von Waffen auf den eisernen Schildbuckeln, Befehle, die gebrüllt wurden.
Was für eine hirnrissige Idee, mit einer Händlerkarawane durch diesen von den Göttern verfluchten Wald zu gehen, schoss es Adaldjoq durch den Kopf. So gut wurde er nun auch wieder nicht bezahlt, dass sich diese Strapazen irgendwie rechneten. Auf der anderen Seite gab es in Lia2 gerade keine Arbeit für Söldner. Den Hungertod wollte er nicht sterben, und an eine richtige Arbeit hatte der Krieger nie gedacht. Er hatte sein ganzes Leben lang immer nur gekämpft. Und überlebt. Ein kurzer Blick über den Schild und herum offenbarte ihm, dass es hier im Dämmerwald anders war. Alles war anders. Was griff sie da an? Adaldjoq lief los und attackierte einen der Straßenräuber. Im Dunkel des Waldes, dessen dichte, hohe Bäume sich weit oberhalb der schmalen Straße geschlossen hatten und kaum Licht durch das Blätterdach ließen, konnte der Söldner nichts weiter erkennen als eine Gestalt ähnlich der seinen. Sein Gegenüber war mit einem Lederpanzer geschützt und trug einen langen, schmutzig grünen Umhang, einen viele Scharten aufweisenden Schild und ein kurzes Hiebschwert, um im Nahkampf auf der Straße besser bestehen zu können. Er hatte nur kein Gesicht, sondern einen Kopf, der aus Metall zu bestehen schien. Keinen normalen Helm, sondern ein richtiges Gesicht, aber aus Metall. Darüber trug er eine Kettenhaube zum Schutz. Adaldjoq fröstelte. Das Wesen war geübt im Umgang mit seiner Waffe und hielt dem Kämpfer stand. Es stand sicher und parierte die Hiebe scheinbar mühelos. Aladjoq spürte Kälte, obwohl er eigentlich schwitzte. Doch in seinen Respekt für den geübten Gegner mischte sich langsam auch die Angst vor etwas Unbekanntem, vor einer Macht, die er gar nicht einzuschätzen vermochte. Der Söldner täuschte einen scharfen Hieb gegen die linke Schläfe seines Gegners an und drosch mit aller Kraft seines linken Arms den Schild blitzschnell durch die sich öffnende Lücke in der Verteidigung. Die Wölbung des Schildbuckels knallte laut gegen die metallene Stirn des Wesens, und es flog hinten über und blieb liegen.
Doch als der Krieger sich um wandte um zu sehen, ob die Händler sich verteidigen könnten, musste er erkennen, dass die Gegner sie zwischen die Lasttiere zusammen gedrängt hatten und attackierten. Mit einem lauten Schrei stürzte Adaldjoq sich auf die Angreifer und erschlug zwei von ihnen hinterrücks, bis sich der Tumult auflöste und die Feinde so schnell verschwanden, wie sie gekommen waren. Alle sahen sich um. Da lagen tote und verwundete Händler, ein Lasttier war ebenfalls erschlagen worden, aber keine Straßenräuber. Auch nicht Adaldjoqs Gegner.
„Was geht hier vor?“, fragte Toshor Ribot, der Beleni, der die Karawane anführte. Sofort plapperten alle durcheinander, aber als Toshor einfach nur die Hand hob verstummten sie und sahen Adaldjoq und Sermen, den anderen Söldner, an.
„Sie sind gute Kämpfer, und sie tarnen sich mit metallenen Masken“, sagte Sermen. „Aus irgendeinem seltsamen Grund dürfen wir ihre Gesichter nicht sehen.“
„Warum verstecken Straßenräuber ihre Gesichter? Das ist doch völlig paradox“, tönte es von Truven Vurash. „Wenn wir sie besiegt hätten, könnten wir uns ihre Gesichter doch auch ansehen.“
„Wir haben sie aber nicht besiegt“, begann Adaldjoq langsam. „Wahrscheinlich waren so viele von ihnen hier hinter den Bäumen versteckt, dass wir bis zum jüngsten Tag hier kämpfen könnten gegen sie. Das hatte Plan, da steckte eine Idee hinter. Sie haben uns nicht nur einfach angegriffen. Da ist noch mehr.“
Der Krieger sagte aber nichts weiter, sie alle mussten sich ihre eigenen Gedanken machen, wie es aussah. In die folgende Stille schluchzte nur das Sklavenmädchen.
1. Kapitel
In der großen Ebene von Knahr Ahrliahr, dem Staat der Heimatlosen und Gestrandeten3, liegt die Stadt Dir Nogh. Sie ist Stein gewordenes Monument der baulichen Fähigkeiten des Volkes. Eine unglaublich hohe und dicke Stadtmauer schützt den Kern der Stadt, so dass die so genannte Oberstadt uneinnehmbar wirkt, ohne es wirklich zu sein. Die Schöngeister unter den Städteplanern fanden es wichtiger, auf Dinge wie Luxus, Glanz und Schönheit Gewicht zu legen. In harmonischer Formvollendung schmiegten sich Häuser und Paläste an die Mauer und einander, immer wieder durch Tempel akzentuiert. Gerade Straßen ließen auf eine bewusste Stadtplanung schließen, ohne dass der Ort vom Zeichenbrett in einer anderen Metropole aus konzipiert worden wäre. Gegründet wurde sie vor langer Zeit von Dahr Nog, der einer der Navigatoren des ersten Schiffes der Heimatlosen war, das auf Kankaria strandete. Er gründete sie ein Jahr nach der Vernichtung des Einen und seiner Armee Tumnata4.
Viele Jahre sah es so aus, als strebten die neuen Siedler nichts weiter an, als einen Fleck zu haben, an dem sie sicher leben konnten. Kankaria war in diesen Tagen relativ dünn besiedelt, und nach dem Kampf gegen die Armee Tumnata, in der die Ritter der Neuankömmlinge großartiges geleistet hatten, waren die Völker nur zu gern bereit, den Rettern Land zuzugestehen. Doch das war lange her. Viele tausend Jahre waren vergangen, und nur noch die Heimatlosen und Gestrandeten sahen sich selbst in dieser – tradierten – Rolle, tatsächlich war der Westen Kankarias lange schon ihre Heimat. Sie hatten einen funktionierenden Staat mit auf der gesamten Welt einzigartig guten Straßen, einem System von Stadtstaaten, die in dem Bündnisgleichen Gefüge unter der Führung des Hofes von Dir Nogh zusammen geschlossen waren, und einer Armee großer Krieger, die eigentlich nie gebraucht wurde. Knahr Ahrliahr hatte keine mächtigen Gegner, es hatte vielmehr kleine Probleme mit Randgruppen.
Straßenräuber war ein anderes, in Ogā Fysbols Augen ungleich hässlicheres Wort für diese Personengruppe. Natürlich war das eine grobe Verallgemeinerung der Problematik, dessen war der König von Knahr Ahrliahr sich sehr wohl bewusst. Es war weder eine große Bande, die den Kriegern und Händlern zusetzte, noch waren es Leute mit ähnlichen Zielsetzungen. Der König würde das jetzt gleich erst lernen, seine Berater waren gut vorbereitet auf dieses kleine, streng geheime Treffen in einem Nebenraum des Palastes.
Ausgebreitet auf dem Tisch vor ihnen lag eine Karte, die den gesamten Kontinent zeigte. Neben den Konturen der Landmasse waren die Gebirge eingezeichnet, die großen Flüsse und die wichtigsten Städte. Außerhalb des Landes hatte der Kartograph Wellenlinien angedeutet, zwischen denen hier und da ein Schiff oder ein Seeungeheuer zu sehen war, damit auch der nicht so Karten kundige Betrachter Wasser und Land unterscheiden konnte. Ogā für seinen Teil ging immer noch davon aus, dass sie es nur taten, damit sie das gesamte Blatt bemalt hatten, und nicht jemand noch einen Ort finden konnte, an dem er Notizen ergänzen konnte. Was sollte schon um einen Kontinent herum sein? Die farbige Tinte, die sicherlich etwas an Kraft verloren hatte in den letzten Jahren, deutete die blauen Flüsse und braunen Berge, die roten Städte und schwarzen Straßen eigentlich ziemlich interpretationsfeindlich und sehr deutlich an. Straßen verliefen immer über Land, nie über Wasser. Dafür gab es Brücken, die in der Lage waren, einen Fluss zu überspannen. Aber eben nicht mehr. Das Meer um die Kontinente herum war einfach zu tief, als dass man dort Brücken bauen konnte. Eines Tages würde jemand kommen, der eine Karte so malte, dass auch ein König da noch eine Bestellung an die Küche drauf schreiben konnte.
Die Küche … Ogā bekam wieder Hunger. Regierungsarbeit war einfach anstrengend und verbrauchte viel Energie in Form von Nahrung. Sicher, man sah es Ogā nicht an, sein Körper deutete viel mehr darauf hin, dass seine Fressorgien grundsätzlich sofort auf die Hüften gingen und gar nicht erst den Umweg über die Nerven machten. So wirklich anstrengend war sein Job nun wirklich nicht. Körperlich gab es nicht viel. Sein Gewicht musste bewegt werden. Nicht weit, aber immerhin bewegt. Er hatte aber nicht sehr viele Anlaufpunkte im Tagesablauf. Da war das Bett, aus dem er irgendwann aufstand, wenn er ausgeschlafen war, der Tisch, an dem er aß, der Tisch an dem er arbeitete, vielleicht noch der Thron im Kleinen Thronsaal, dann wieder der Tisch für die Aufnahme von Nahrung, die Toilette, um das alles auch wieder weg zu bringen, und natürlich der Hafen der Ruhe, die Küste des Vergessens, sein geliebtes Bett. Dieser eigentlich wunderbare Ablauf war einmal mehr durcheinander gebracht worden. Diesmal von Nomis Enfesh, seinem Zweiten Berater. Er war viel zu jung für den Job, viel zu agil für Dir Nogh, und doch ein brillanter Kopf in Planung und Organisation. Nomis hatte die Karte gebracht. Und Paven Bakato, den Ersten Berater. Paven war älter, mit ergrautem Haar und hellbraunen Augen. Ein Angehöriger des alten Adels der Stadt, während Nomis ein Isheni war, zugereist, mit kurzen blonden Haaren und blauen Augen. Beide Berater waren groß und schlank, Ogā fand sie viel zu hektisch. Doch sie waren beide, so verschieden sie waren, die hellsten Köpfe in weitem Umkreis, und absolut loyal dem König gegenüber. Das konnte nicht jeder König dieser Welt von seinen Ratgebern behaupten, nicht einmal alle Königinnen des Staates der Heimatlosen und Gestrandeten.
Seufzend blickte Ogā die beiden Männer an. Was hatten sie nun schon wieder? Der Kontinent sah so aus wie immer, das Zentralmassiv, das die beiden Hälften Kankarias fast gerecht teilte, lag noch immer dort, auch das Massiv im Westen, die Flüsse wirkten unauffällig, das Netz der Straßen dünnte nach Osten hin immer mehr aus, und dieser dämliche Wald, der fast die Hälfte des Ostens bedeckte, war auch immer noch da. Musste er, der König der Könige, ernsthaft fragen, was ihm auffallen sollte an dieser Karte, die wieder keinen Platz für eine Randnotiz bot? Als weder Paven noch Nomis irgendwelche Anstalten machten, mit einer Art von Vorrede oder Erklärung zu beginnen, trug Ogā in aller Seelen Ruhe einer Sklavin auf, das zu bringen, was er als Kleinen Imbiss definierte. Die Berater hatten diesen Moment bewusst abgewartet, wissend, dass der König hungrig gar nicht zu genießen war. Er würde sich die Idee auch nicht anhören wollen, sondern essen gehen. Dies hier aber verlangte etwas mehr Ruhe und eine entspannte königliche Präsenz.
Als Ogā Fysbol sich wieder an den schlichten Tisch mit den Fayenceeinlagen auf der Platte gesetzt hatte, hüstelte Nomis kurz um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Die beiden älteren Männer sahen ihn an.
„Ich muss die Karte nicht weiter erklären, denke ich“, begann der Zweite Berater, als er die Augen auf sich ruhen wusste. Er deutete auf einen roten Punkt in der Mitte der Westhälfte der Landmasse. „Hier liegt Dir Nogh, das hier drum herum ist alles unser Herrschaftsgebiet und relativ unter Kontrolle. Wir haben da noch das eine oder andere Problem mit Straßenräubern, aber das bekommen wir auch noch in den Griff. Was wir gar nicht in den Griff bekommen ist das hier.“
Seine rechte Hand legte sich einfach auf die Osthälfte des Kontinents. Ogā und Paven sahen auf seine Hand, dann wieder in seine Augen. Der Blick war fragend, aber das sollte er auch sein. Erst die Neugierde wecken, dann das Begehren. Und schon wollte Ogā es haben. Und hier ging es um etwas, das sie alle wollten.
„Unsere Schiffe laufen von hier aus“, erklärte Nomis dann und zeigte auf einen roten Punkt auf der anderen Seite des Zentralmassivs. „Hier, am Yeatischen Meer, liegt Nijel Shurod, der Hafen des Nijel. Das ist in etwa der östlichste Punkt unseres Herrschaftsgebietes, wenn wir hier oben von dem Hafen mal absehen, der kaum genutzt wird, weil der Hafen von Erdjan einfach der günstigere Anlaufpunkt für die Schiffe von Globron ist, die über die Straße von Olmon Shor5 kommen. Erdjan hier, Nijel Shurod hier. Das sind unsere Häfen von Bedeutung für den Handel mit fast der Hälfte der Welt. Tor nach Sskriklard6 ist aber Rais, das ist diese Stadt hier weit im Osten, weit entfernt von unserem Herrschaftsgebiet.“
„Erzähl mir doch mal etwas, das wir noch nicht wissen“, brummte Ogā. Es konnte auch sein Magen gewesen sein, der Tonfall war gleich. Nomis sah kurz auf und direkt in die braunen Augen des Königs.
„Wer von uns beiden wird jetzt hektisch?“
„Da hat er Recht“, grinste nun Paven Bakato den König an. Der seufzte nur und ließ resigniert die Arme hängen. Von wegen Macht und Einfluss und dergleichen. Niedergemacht wurde er von seinen vorlauten Beratern. Und das in Momenten größter Hungersnot.
„Ich möchte dich für ein großes Problem sensibilisieren“, sagte Nomis dann mit fester Stimme. „Dies hier ist die Route, die unsere Schiffe mit ihrer Ladung nehmen.“
Sein rechter Zeigefinger fuhr an der südöstlichen Küstenlinie entlang in Richtung Osten, um das Horn herum und hinauf nach Rais. Ogā fragte sich einen Moment, welche Alternativen es für die Schiffe wohl sonst noch geben mochte. Schließlich konnten sie ja nicht über Land abkürzen.
„Den Zipfel dort nennen die Seeleute Kap der Angst“, sagte Nomis nach einer kleinen Kunstpause, die gerade so lang war, dass Ogā Fysbol keinen körperlichen Schmerz spüren konnte. „Der Grund ist für uns nicht wirklich fassbar: Piraten. Sie entziehen sich seit Jahrhunderten schon dem Zugriff, einfach weil es wohl keine homogene Gruppe ist, die dort operiert, sondern immer mal wieder andere Leute. Selbst wenn wir ein Schiff versenken und die Besatzung gefangen nehmen oder töten wächst ein neues Schiff mit neuer Besatzung irgendwie nach.“
„Piraten sollen so entstehen, sagt man“, brummte Ogā kaum hörbar. „Wenn es irgendwo ein Vakuum gibt entstehen sie einfach aus dem Nichts und dem natürlichen Bedürfnis der Händler nach einem Überfall heraus.“
„Ich bin mir nicht ganz sicher, ob die Händler die Überfälle herbeisehnen“, erwiderte Nomis einfach und deutete auf einen roten Punkt jenseits des Zentralmassivs. „Das hier ist Turbanob. Ein kleiner Ort, der an der Kreuzung der via Oreno mit der via Moldja liegt. Er gehört noch zu unserem Machtbereich, dort kontrollieren wir noch die Wege. Aber ein Stück weiter nach Osten, die via Oreno entlangt, wird es übel.“
Während Nomis’ Finger der Linie der Straße nach Osten folgte, begann Ogā langsam zu nicken.
„Da fängt dieser komische Wald an, gegen den niemand etwas unternehmen will“, tönte es vom König. „Alles das weiß ich doch.“
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1 Lasttier mit Hufen und mittellangem Fell, fressgesteuert.
2 Stadt auf Kankaria von ungemein günstiger strategischer Lage in einer Schlucht, die das Zentralmassiv des Kontinents in einen nördlichen und einen südlichen Teil trennt.
3 Knahr Ahrliahr liegt im Westen des Kontinents Kankaria.
4 Der Eine gilt als Gegenspieler allen Göttlichens und wird von den Völkern Drurkas gefürchtet, da er Dunkelheit in die Welt bringt, in eine Welt aber, die keine Dunkelheit kennt. Nach dem großen Sieg der Götter, in der sie dem Einen die Welt endgültig entrissen, herrscht auf Drurka das Licht.
5 Die Straße von Olmon Shor ist das schmale Meer zwischen Kankaria und dem nördlich liegenden Kontinent Globron.
6 Kontinent im Osten Kankarias.