Prolog
Laut klopfte es an die dicke, dunkle, hölzerne Tür. Artome und Roya Muna waren allein zu Hause, und sie wussten von Beginn an, dass es eine dumme Idee ihrer Eltern gewesen war, sie allein zu lassen. Artome, die ältere Schwester der 12jährigen Roya, hatte die gesamte Zeit über Hausarbeiten erledigt. Nun war alles aufgeräumt und der Holzboden gewischt. Die Betten waren aufgeschlagen, das Feuer brannte ruhig. Roya hatte sie dabei die ganze Zeit genervt mit Dingen, die in Artomes Augen kindisch und langweilig waren. Dingen, die ihre Arbeit hier störten.
Und wieder klopfte es, fester, fordernder. Das 16jährige Mädchen scheuchte die kleine Roya in das Schlafzimmer, wo sie sich beleidigt unter das Bett legte, aber so, dass sie unter der warmen, braunen Wolldecke, die über dem Oberbett lag, hervorlugen konnte, ohne dass Artome es bemerkte.
Die zupfte ihr grünes Kleid etwas zu Recht, richtete den Oberkörper auf, ging zur Tür und öffnete sie. Überrascht sah sie dort fünf Männer mittleren Alters stehen. Der Vorderste gab ihr mit seiner linken Hand einen harten Stoß vor die Brust, so dass Artome rückwärts stolperte. Blitzschnell waren die Männer im Raum und hatten die Tür geschlossen. Sie alle trugen verwaschene Wappenröcke1 der Stadtwache von Seltash2 und waren etwas außerhalb ihres Wirkungsbereichs - es sei denn, sie kamen von einer dieser Missionen zurück, bei denen sie Personen verschwinden ließen. Niemand sprach darüber, aber es war eigentlich allen bewusst, dass es sich so verhielt. Artome riss die Augen weit auf. War sie die Nächste? Sollte nun sie verschwinden?
Die Männer erkannten die Angst in den braunen Augen des Mädchens. Eigentlich war die Kleine noch zu jung, aber die Soldaten benötigten noch ein Opfer, um ihre Vorgesetzten gütig zu stimmen. Es würde eine Belohnung geben für die gute Arbeit. Das Mädchen war nicht das, was sie sich für ihre eigenen Wohnungen wünschten; sie entstammte der Rasse der Beleni. Schwarzhaarig, mit dunklen Augen und einem leichten Teint.
Braune Augen sind falsch, fand Meljor, der Anführer der Soldaten. Beleni sind Lügner und Diebe. Alles Pack.
Seine Begleiter teilten diese Ansicht, und sie hatten wenig Skrupel, das schreiende Mädchen zu ergreifen. Sie wehrte sich, trat mit ihren bloßen Füßen um sich, doch die Schutzkleidung der Soldaten bewahrte sie vor einer schmerzhaften Erfahrung. Meljor jedoch kam ihrer rechten Hand zu nah und musste spüren, dass die Krallen der kleinen Beleni sehr scharf waren. Blutige Striemen zogen sich über seine linke Gesichtshälfte, und nur das Glück und seine schnelle Reaktion rettete sein linkes Auge vor den scharfen Fingernägeln des jungen Mädchens. Die Soldaten versuchten die sich wehrende junge Frau fest zu halten und rissen an ihrem Kleid herum, das dabei aufriss und zu Boden glitt.
Doch der jugendliche Körper des Mädchens war für die fünf Soldaten nicht ansprechend, auch nicht in seiner Blöße. Sicher, sie war genau so gebaut wie eine Isheni, es gab eigentlich kaum einen Unterschied, aber es war nun einmal Fakt, dass sie einem völlig anderen Volk entstammte. Die Soldaten hätten ja auch keine Freude an einer nackten Harjassi, einer nackten Schlange oder einem nackten Hund. Alles das schoss den Soldaten aber nicht durch den Kopf, während sie das Mädchen in Ketten legten, sondern einzig die Belohnung und die freie Zeit. Wenn sie die kleine Beleni abgegeben hatten, wäre es so weit. Sie würden zurückkehren nach Seltash und sich dort in eine der Tavernae setzen, um zu zechen und zu essen. Vielleicht würde auch jemand musizieren, oder Tänze würden geboten. So etwas stellten sie sich unter einer perfekten freien Zeit vor.
Starr vor Entsetzen starrte die kleine Roya mit großen braunen Augen unter der Decke hervor und beobachtete den Kampf ihrer Schwester, der schon bald verloren war. Die Männer taten ihr nicht weh, aber sie fesselten sie und schleiften sie raus. Der Mann mit dem zerkratzten Gesicht sah sich noch einmal um; das Blau seiner Augen brannte sich in Royas Geist ein. Sie wollte schreien, aufspringen, ihn mit einem Küchenmesser nieder stechen. Doch sie konnte sich nicht rühren. Sie konnte nur atmen und gucken. Nicht einmal die Augen vermochte das Mädchen zu schließen.
Da drehte sich der Mann um und stapfte hinaus, seinen Kameraden hinterher. Die Tür zog er hinter sich zu, und es war Stille. Roya lag unter dem Bett. Tränen flossen aus ihren Augen. Sie war wütend auf die Männer, die Artome geraubt hatten, aber noch wütender war sie auf sich, dass sie nichts machen konnte, sondern dass sie wehr- und hilflos hier unter dem Bett lag. Noch immer war sie nicht fähig, sich zu rühren. Die Starre hielt an, während das kleine Mädchen weinte, und es war das einzige Geräusch im Haus. Die Soldaten waren fort, und mit ihnen Artome. Nur die kleine, weinende und noch immer vor Angst bewegungsunfähige Roya lag auf dem Fußboden, den ihre Schwester gerade noch gewischt hatte.
Es war ruhig, kein Zeichen war von Artomes verlorenem Kampf geblieben, nur ein zerrissenes, flaschengrünes Kleid auf dem sauberen Holzfußboden.
1. Kapitel
Aus dem flaschengrünen Stoff des zerrissenen Kleides war nun mehr ein blassgrüner Fetzen geworden. Die junge Frau, die mit einem gebeugten Knie auf dem flachen Dach des weiß getünchten, zweigeschossigen Hauses hockte, trug das Textil um den linken Oberarm geknotet, gerade so, als verberge sie eine frische Wunde darunter. Im Gegensatz zu ihrer Schwester hatte ihr dieser Stoff bislang nur Glück gebracht, daher trug sie ihn immer. Sie hielt den Kopf gesenkt, das schwarze Haar fiel in ihr Gesicht und in Wellen lang herunter. Die mädchenhafte, zusammengekauerte Gestalt trug eine kurze, gegürtete braune Tunika3 und eine Stoffhose. Der Stoff der Hose war heller, dafür das Tuch der Tunika edler. Hätte sie es bezahlen müssen, sie hätte Abstand von der Idee genommen. Aber so …
Unter sich auf der Straße konnte Roya die Stimmen aufgeregt rufen hören. Sie konnten sie nicht sehen, aber sie wussten, dass die Diebin noch in der Nähe sein musste. Die junge Frau atmete leise aus, gerade so, als könne sie jemand hören, würde sie ein lauteres Geräusch verursachen. Die Gedanken überschlugen sich im Kopf der jungen Frau. Was hatte sie falsch gemacht, dass die Bewohner ihren Raub so schnell bemerkt hatten? Roya war sich keines Fehlers bewusst; ihre Planung war eigentlich perfekt gewesen, und für jede Eventualität hatte sie eine Ausweichmöglichkeit vorgesehen. Außer für diesen Fall. Wohin sollte sie flüchten? Zwar wusste sie, dass die Leute unten auf der Straße waren, aber das Gebäude stand auf einer insula4 und war von Straßen umrahmt. Wo befanden sich Personen, die sie sehen konnten, wenn sie über die Brüstung sah? Auf jeder Seite des großen, flachen Gebäudes, oder konnte sie an einer Seite auf das Dach eines Nachbarhauses springen und so unbemerkt entkommen? Oder zumindest fast unbemerkt. Roya fasste unbewusst an den Rücken, wo sie ihr kurzes Hiebschwert trug. Mit diesem Sax5 vermochte die Diebin sehr gut umzugehen; sollten die Bewohner des Hauses auf die Idee kommen, auf dem Dach nachzusehen, würde die junge Frau kämpfen. Sie musste dann kämpfen, denn das Schicksal einer Diebin war nicht besonders angenehm. In manchen Städten wurden Dieben einfach die Hände abgehackt, dann ließ man sie öffentlich auf dem Forum entweder ausbluten oder schloss mit einem glühenden Eisen die Wunde. So ganz ohne Hände konnte Roya sich nicht vorstellen zu leben, daher war sie fest entschlossen zu kämpfen. In anderen Städten verschwanden Diebe in Minen oder den Kerkern, wo sich sadistische Foltermägde und –knechte an ihnen ausließen. Die zierliche Frau wusste nicht, welche Alternative ihr am unangenehmsten erschien, aber so wirklich anfreunden konnte sie sich mit keiner der Prognosen. Ihr Atem ging schneller, als die Bilder in ihrem Geist auftauchten und ihr die Zukunft vorgaukelten.
Das Chaos ihres Lebens ließ Roya einmal mehr in eine Situation geraten, in der sie sich schwor, ihr Leben zu ändern. Doch was konnte sie tun? Sie lebte als eine Söldnerin, die für den Herrn kämpfte, der ihr den Lebensunterhalt zahlte und die größere Beute versprach. Das war, was die Lebewesen der Welt über Roya wussten. Dass sie nebenbei einem anderen, etwas weniger legalem, Hobby nachging, ahnte niemand. Als Söldnerin verdiente sie jedoch nicht viel. Dafür reiste sie um so mehr. Andere Söldner lebten in einer Stadt und ließen sich vom Souverän aushalten. Er bezahlte Kost uns Logis, und wenn er ein Problem hatte, lösten es die Söldner. Manchmal geschah lange Zeit nichts, und der König sah einfach nicht mehr ein, die Männer und Frauen zu beköstigen, also ließ er sie von seiner Stadtwache ermorden oder verschleppen. Das war etwas, mit dem sich Roya genau so wenig anfreunden konnte, wie mit ihren momentanen Zukunftsaussichten. Etwas musste geschehen. Roya musste handeln, und zwar sofort, bevor noch mehr Leute auftauchten und die Diebin – oder den Dieb – suchten. Und bis die Stadtmauern undurchlässig wurden für jeden, der keinen wirklich guten Grund hatte, zu gehen. Also einen legalen Grund zu gehen. Wobei Söldner eigentlich immer kamen und gingen, wie sie wollten. Nur wurden sie in solchen Fällen sicherlich durchsucht. Oder prophylaktisch weggesperrt. Oder beides.
Handeln, aber wie? Was konnte sie tun, ohne doch entdeckt zu werden? Sie musste runter vom Dach und raus aus diesem Stadtteil. Schon bald würden die Wachen der Stadt dafür Sorge tragen, dass nichts und niemand mehr hier heraus kam. Bis dahin musste sie entweder fort sein, oder einen wirklich guten Platz gefunden haben, an dem sie sich ein paar Tage oder Wochen unbemerkt aufhalten konnte. Dass es solch einen Platz in diesem Teil der Stadt tendenziell eher nicht gab, war ihr auch klar, also verwarf sie den Gedanken und fokussierte sich auf die Möglichkeiten der baldigen Flucht. Sie konnte plötzlich die tastenden Gedanken und Sinne eines magisch sehr Begabten spüren, der nach dem Geist des Diebes forschte. Er tastete an ihr vorbei und konnte sie nicht wahrnehmen, wohl aber die Diebin ihn, wenngleich seine magische Begabung viele Male höher war als ihre. Er ging aber nicht davon aus, dass der Dieb - denn er suchte nach einem männlichen Wesen, das schwang irgendwie in seinem Gedankenmuster mit, so dass Roya es erahnen konnte - eine höhere magische Begabung haben würde. Für ihn war es der barbarische Akt eines einfachen Räubers ohne großartigen Hintergrund. Was der jungen Frau allerdings etwas unreflektiert erschien, schließlich käme ein einfacher Dieb eher nicht auf die Idee, in ein bewachtes Wohnhaus einzubrechen, um einen unbezahlbaren und heiligen Pokal zu stehlen.
Ihr Blick schweifte umher. Die Straßen waren auf drei Seiten gleich breit, und nur in ihrem Rücken ein wenig schmaler. Für einen Sprung wäre das die beste Richtung. Der Nachteil war der, dass sie nicht raus, sondern immer weiter in den Stadtteil hinein gelangen würde. Und der Rückweg wäre umso beschwerlicher. Eine Söldnerin mitten im vornehmen Wohngebiet der Adeligen. Direkt nach einem Einbruch. Das musste Verdacht erwecken. Doch zuerst musste sie herunter von diesem Dach. Und wenn sie bis zum Palast des Königs auf den Dächern herum turnte. Es gab eine Stelle, die noch ungünstiger war, auf die Bewohner der Stadt zu treffen, und das war der Ort des Verbrechens. Den geraubten Gegenstand in Royas Tasche, das verlangte gar nicht mehr nach einer Verhandlung, die Meute würde direkt an Ort und Stelle zur Lynchjustiz schreiten.
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1 Schlichtes Obergewand, das die Farben der Gruppe widerspiegelt und über der Defensivbewaffnung – wie etwa dem Kettenhemd – getragen wird.
2 Stadt im Süden von Globron.
3 Obergewand, welches mit und ohne Ärmel auftreten kann, von nicht tailliertem, geraden Schnitt, das in seiner Länge stark variieren kann. Hier: Kurz und ärmellos.
4 Städtebauliches Element; eine regio, eine feste Parzelle, die von jeder Seite von einer Straße begrenzt wird.
5 Einschneidiges Kurzschwert.