1. Kapitel
Wie aus dem Nichts stand der große Krieger mit dem gigantischen Schwert vor ihnen. Paralysiert starrten die beiden jungen Frauen ihn an. Der Schild befand sich auf seinem Rücken, die Waffe stand auf dem metallenen Ortband1 der braunen Scheide, und die hünenhafte Gestalt schien sich lässig darauf zu stützen. Er mochte glauben, dass von diesen beiden Wanderinnen keine Gefahr für ihn ausging, er mochte sich auf die Überraschung verlassen, die hinter dieser Wegbiegung, auf diesem schmalen Pfad im Gebirge auf seiner Seite war, oder stumpf auf seine unglaubliche Körperlichkeit. Irda und Jela blickten nach oben in seine schwarzen, runden Augen. Die wirkten amüsiert, vielleicht sogar ein wenig gelangweilt, in jedem Fall jedoch frech. Nur langsam wurde der Blick fragend, und Zweifel runzelten seine Stirn mit dem kurzen braunen Fell. Etwas stimmte nicht mit diesen beiden Vagabundinnen. Was mochte es sein? Da war ein Widerspruch, nicht zu fassen und doch war er da. Der Wächter spannte sich, richtete sich auf und veränderte die Stellung seiner Beine. Wenn die beiden kleinen Wesen ihn angriffen, wollte er bereit sein. Doch die tasteten nicht nach ihren Waffen. Das war in ihren Augen sinnlos. Es war klar, dass der gehörnte Krieger mit dem Kuhgesicht sie nur irgendwie treffen musste mit seiner Waffe, um sie auszuschalten. Sie waren auch nicht gekommen, um sich den Weg frei zu kämpfen. Schon gar nicht gegen ein Wesen, das sie so zuvor nie gesehen hatten. Sie wussten aus den Berichten der Magier, dass es diese Rasse dereinst auf Drurka gegeben hatte. Doch das war sehr, sehr lange her. Nun lebten nur noch wenige magische Kreaturen mit diesem Aussehen, die meisten von ihnen dienten unter Seiner Knute im Heer Tumnata. Woraus genau genommen nur noch folgen konnte, dass der Krieger auf dem Weg ein magisches Wesen war, das aus einem unerfindlichen Grund hier stand und die schmale Straße in die Berge verteidigen sollte. Doch gegen wen? Sie beide hielten sich nicht für eine Gefahr, weder für die Berge, noch für die Stadt, die am Ende dieses Passes liegen musste, und von der unmöglich noch mehr erhalten sein konnte als ein wenig Staub.
„Ich kann euch nicht passieren lassen!“, tönte es vom mächtigen Krieger. Mit einer sehr eleganten Bewegung zog er sein mächtiges Schwert. Die Muskeln seiner nackten Oberarme spannten sich an, und durch ein anfangs irritierendes Zucken seiner linken Schulter rutschte der Lederriemen, der den runden Schutzschild auf seinem Rücken gehalten hatte, langsam nach vorn. Als gehörte diese Abfolge zur einzig möglichen landete die Defensivwaffe in seiner linken Hand, und auffällig lässig brachte er seinen Schutz am ausgestreckten Arm zwischen sich und die viel kleineren, unbewaffneten Frauen. Die sahen sich verwirrt an.
„Wir gehören zu den Wächtern über die Zauber dieser Welt“, sagte da Jela, die größere der beiden, die den breiteren Mund und die hellere Haut hatte. „Natürlich gehen wir dort weiter. Weißt du nicht, mit wem du redest, Krieger?“
„Mit Personen von nicht sehr hohem Alter und geringem sozialem Stand“, konterte der Wächter. „Grau tragen bei uns die Diener.“ Sein mächtiges Kinn deutete auf die langen Umhänge, die beide trugen.
„Und bei uns der mächtigste magische Orden“, konterte Irda, das Venoamädchen.
„Ihr seid keine Magierinnen“, war der Krieger sich sicher. Das hätte er gespürt; doch er hatte etwas gespürt, das er gar nicht benennen konnte. Was mochte es sein?
„Du spürst es und weißt nicht, was es ist, nicht wahr?“, fragte Jela. Noch immer hatte keine von beiden sich bewaffnet, um zumindest seinen ersten Angriff parieren zu können. Sie würden sterben, wenn sie derart unvorbereitet hier stehen blieben. Sie mussten gehen, oder er würde sie töten. Bei diesem Gedanken hielt er inne. Er tastete mit seiner magischen Begabung noch einmal über die Frauen.
„Hör auf damit, du erreichst nichts auf diese Art. Rede mit uns!“, sagte Irda ärgerlich. Doch der Krieger hatte schon gespürt, was er gesucht hatte. Er schwang sich den Rundschild geschickt auf den Rücken und steckte sein mächtiges Schwert wieder in die Scheide, die er mit dem Fuß geschickte hochkippte. Und so, als sei er ganz allein hier auf dem aufwärts verlaufenden Sims, lehnte er sich wieder lässig auf die Waffe.
Irda und Jela blickten sich, dann den Krieger an, doch der schien erstarrt, wie zu Stein geworden. Langsam gingen sie um die Waffe und sein rechtes Bein herum, dicht entlang am Abhang, der ein weites Stück senkrecht nach unten verlief. Da war ein kleines Plateau, nur wenige Meter unter ihnen, doch auf ihm stand, gleich einer in den felsigen Boden gerammten Lanze, ein spitzer Felsendorn. Irda war sicher: Sollte sie jetzt ausrutschen, diese steinerne Nadel würde sich in ihren Körper bohren. Sie schluckte und ging weiter, hinter Jela her. Dann waren sie um den unheimlichen magischen Krieger herum und folgten dem steinernen Pfad weiter hinauf in den Berg. Sie wussten fast gar nichts über diesen Ort. Doch sie hatten alle weiteren Schritte abhängig gemacht von dem Wall, der weiter unten, am Fuß dieses Berges, lag. Die Bevölkerung nannte ihn nur Hornwall, manchmal fand man auch bei Bauern die Bezeichnung Hörnerwall. Das – völlig intakte, in großem, exakt behauenem dunklen Stein ausgeführte – Bauwerk selbst hatte an keiner Stelle ein Horn, auch keine Zeichnung oder Gravierung davon; das hatten sie akribisch überprüft. Dieser Name ging zurück auf die Erzählungen aus einer alten Zeit, lange vor der Gründung des Staates Eshqa, eine Epoche, die sich nur bei wenigen Kulturen der Welt noch als Sage gehalten hatte. Die Bewohner von Verentsha auf Apkalg hatten diese im tiefsten Dunkel der Geschichte liegenden Ereignisse in die Phasen unterteilt, in denen der Eine die Welt fest in Seinem Griff hatte und die Ewige Dunkelheit, das Wir Lan, eine lange Zeit regierte. Wiederkehr nannten sie die Zeitalter dazwischen, in denen das Bewusstsein der Welt zusammen mit dem Licht der Götter – zurück? – kam. Ganz falsch konnte diese Formulierung nicht sein, fanden beide, hatte sich doch der uralte Name des Abschnittswalls gehalten und war mit den Erbauern, mindestens aber den letzten Besatzern dieser ersten Verteidigungslinie verbunden, ohne dass sich deren Existenz in der Erinnerung der Völker gehalten hätte. Auch die Bewohner im Tal wussten nicht mehr, warum dieses fortifikative Bauwerk Hornwall – oder Hörnerwall – genannt wurde. Das war der feststehende, seit unfassbar langer Zeit fehlerfrei tradierte Eigenname. Sollte jemals ein Bewohner der Dörfer und Städte wirklich in diese Berge gegangen und bis zum Wächter gekommen sein, würde er oder sie, im Falle des Überlebens, eine Erklärung liefern können. Daran jedoch glaubten beide Wanderinnen nicht.
Es wurde dunkler. Im Tal hinter ihnen tobte ein Unwetter, doch die Ausläufer der Wolken zogen bis zu ihnen. Sie hingen tief und wirkten grau, und Jela war sicher, würde sie den Arm ausstrecken, konnte sie eine von ihnen berühren. Gebückt ging sie weiter, aus Angst an diese unheimlichen Wolken zu stoßen. Dann betraten sie das Nebelfeld und konnten kaum noch sich selbst oder den Weg sehen.
„Nur keinen unüberlegten Schritt“, hörte Jela die kleinere Irda sagen.
„Sonst was?“, fragte sie zurück. „Werden wir sterben?“
„Ja.“ Irda blieb stehen und sah die Freundin irritiert an. So unwahrscheinlich war das nun auch wieder nicht. Schließlich ging der Abhang einige hundert Meter einfach nur steil hinunter. Hier im Nebel würde das nicht anders sein, nur weil sie nichts mehr sehen konnten.
„Manchmal denke ich, dass es auch eine Erleichterung sein kann“, erwiderte Jela. Innerlich verdrehte Irda die Augen, äußerlich ließ sie sich nichts anmerken sondern grinste fröhlich. Es ging also wieder einmal los.
„Ach, diese Erleichterungssache ist doch Quatsch“, sagte die kleine Venoa und winkte demonstrativ ab. „Wir haben eine Aufgabe bekommen, und das sollten wir dann auch durchziehen. Manchmal muss man sich seinen Herausforderungen einfach stellen.“
„Manchmal wäre auch gut, aber es zieht sich halt hin“, murrte Jela. Sie wusste, dass Irda Recht hatte. Irda hatte fast immer Recht, sie besaß so etwas wie ein Monopol darauf. Manchmal hegte Jela den Verdacht, dass es nichts auf dieser Welt gab, das Irda aus der Ruhe bringen konnte. Sie versuchte es dann trotzdem. Diesmal kam sie jedoch nicht dazu, die Ausgeglichenheit ihrer Freundin auf die Probe zu stellen, denn aus dem Nebel tauchte eine massive, dunkle Mauer aus großen Steinen vor ihnen auf: Die Stadtmauer, in einem ähnlich respektablen Stil ausgeführt wie schon der Abschnittswall weiter unten. Sie konnten nicht viel erkennen, doch was sie sahen war in jedem Fall mehr, als von diesem Ort noch übrig hätte sein sollen.
Stein zerfällt nicht zu Staub, fiel Irda ein. Da hat man noch nicht von gehört. Es braucht Mahlsteine dafür. Mit diesem Gedanken hatten sie jedoch das etwas rechts von ihnen liegende Tor erreicht. Das war aus einem dunklen, sehr massiv wirkenden Holz, das sicherlich einer Ramme eine Weile zu trotzen vermochte. Die Frauen sahen sich an. Ungläubig klopfte Jela, einfach um am Klang feststellen zu können, dass dieses Tor aus Stein war und nur aussah wie hölzern.
„Herein!“, tönte es mit einer tiefen, verstellt wirkenden Stimme. Jela zuckte zusammen, dann boxte sie Irda auf den Oberarm.
„Bist du bescheuert? Ich habe mich erschrocken!“
„Und du hättest sterben können vor Schreck – ach, das wolltest du ja gerade noch“, erwiderte das Venoamädchen mit dem runden Gesicht. Jela fühlte sich ertappt und sah zu Boden. Da waren Schriftzeichen.
„Was könnte das denn heißen?“, fragte sie nach einem Moment, in dem sie die verschiedenen Dreiecke angestarrt hatte.
„Das ist wieder diese Hörnerschrift“, erkannte Irda. So sahen die Texte, die sie in Verentsha auf Apkalg hüteten, auch aus. Auch damals hatten sie kein Wort lesen können, aber aus einer Karte erschlossen, dass hier diese Stadt liegen musste, die im Volksmund von Borum Dradd Hörnerburg genannt wurde. Ihren tatsächlichen Namen würden sie wahrscheinlich nie erfahren – es sei denn, der magische Wächter hinter der Wegbiegung würde ihn nennen können. Überhaupt:
„Warum haben wir den Krieger verstanden, wenn diese Schrift und die Stadt so alt sind?“, fragte Irda nach einem Moment, in dem sie die in den Boden gemeißelten und irgendwie weiß aufgefüllten Dreiecke, in Verentsha hatten sie von Pfeilspitzen gesprochen, betrachteten.
„Weil es seine Aufgabe ist, verständlich zu sein für jeden“, schlug Jela vor. „Es wird ein Zauber sein, der ihn für uns verständlich macht. Würde ja wenig bringen wenn er sowas sagt wie: Großes Dreieck-großes Dreieck-mittleres Dreieck-großes Dreieck-kleines Dreieck! Finde ich wenig aufschlussreich.“
Irda lachte ihr gewinnendes Lachen. Das konnte Wunden heilen, fand Jela. Der Zauber war damit eine akzeptierte Arbeitsgrundlage, die so fremdartige Inschrift, die etwas differenzierter war als Jelas Versuch der Umsetzung, jedoch nicht ansatzweise entschlüsselt. Das Tor war und blieb geschlossen. Die Zeichen mochten der Schlüssel sein. Die Frauen sahen sich an.
„Die Bewohner der Stadt sind fort, Mauer und Tor sind aber noch da“, begann Irda ihre Gedanken zu sortieren. „Die Stadt wartet auf die Bewohner. Interessant ist, dass es nicht die Beleni waren, die hier verschwunden sind, sondern offensichtlich ein Volk der Telenti. Und sie sind nicht von hier gegangen, sondern von einem Ort, der unter Ja'an Ho liegt und von Fels eingeschlossen ist. Das war ihre Metropolis. Hier war einfach eine ihrer Kolonien, sie haben das Tal überwacht, aber mussten es massiv verteidigen, weil sie einen Gegner hatten, der vor dem Abschnittswall gelauert hat. Ich frage mich, wie sie hier raus gekommen sind, ohne dass es die Gegner im Tal mitbekommen haben.“
„Durch den Torzauber“, schlug Jela vor.
„Nein, ich denke, dass sie ihn von der Hauptstadt aus gesprochen haben, um ihr Volk von hier fort zu bringen. Doch was veranlasst dich, diese Welt aufzugeben und in eine unbekannte andere aufzubrechen?“
„Angst?“
„Nein, sicherlich nicht. Diese Festung war uneinnehmbar. Da steht ein Krieger auf dem Weg nach hier, der hält den Pfad ganz allein seit viel mehr als 200.000 Jahren. Und niemand wagt zu schätzen wie viel mehr.“
„Wie kommen wir rein, Liebes? Das Tor ist zu. Und ich müsste bald mal!“
Das war ein Argument. Mit großen braunen Augen starrte Irda wieder auf das Tor und die Zeichen. Alle Dreiecke wiesen mit der Spitze nach rechts. Das taten sie nicht immer, aber meistens. Die Gründe dafür mochten vielfältig sein, einen dekorativen Anspruch haben oder schlicht von Links- bzw. Rechtshändern geschrieben worden sein. Im Vergleich mit den Texten, die sie gelesen hatten, waren diese Zeichen hier jedoch relativ uniform, mehr so, wie Jela die Sprache versucht hatte umzusetzen. Irda fand nur fünf verschiedene Zeichen. Das konnte – verglichen mit den wahrscheinlich wortgewaltigen Schriften in Verentsha – nicht mehr viel bedeuten, sondern eigentlich nur eine Art von Abkürzung sein. Fünf … was war hier fünffach? Das Venoamädchen blickte sich ein wenig gehetzt um.
„Du suchst die Fünf, oder?“, fragte Jela. Irda nickte stumm. „Vergiss es, habe ich gerade auch gemacht. Alles hier ist mehr als das. Steine, Holzbohlen, Nägel, Scharniere, nur Pflanzen sind weniger.“
„Das wäre auch zu einfach gewesen“, tönte es brummig von Irda. Ihre Finger tasteten in den Vertiefungen, die Nägel knibbelten an den Intarsien, die tatsächlich weißes Email waren, wie sie feststellte, als sie eines der Stückchen herausgefummelt hatte.
„Grubenschmelz“, erkannte Jela. „Da hatte jemand viel Lust, etwas zu basteln.“
„Das hilft aber nicht weiter. Darunter ist nur Felsen.“
„Dann stopf es wieder rein, sonst kriegen wir noch Ärger mit dem Wächter“, konterte die schlanke, große Beleni breit grinsend.
„Als ob!“
„Es ist nicht für die Bewohner“, sagte Jela dann. Irdas Augen fanden ihre und beide nickten. Die Symbole waren einfach gehalten, weil die Bewohner nicht zurück kommen würden, wohl aber jemand, der sich dereinst als würdig erwies, den magischen Wächter zu passieren. Die Erkenntnis kam bei beiden Frauen gleichzeitig. Sie richteten sich auf und betrachteten das Tor. Kein Griff, kein Klopfer, kein Schlüsselloch. Im Schneidersitz hockten sich die beiden so ungleich wirkenden Frauen gegenüber und blickten sich einen Moment lang an.
„Die Tür ist zu und geht irgendwie auf ...“
„Genau, die Tür, nicht das große Tor! Sind wir blöd!“, rief Irda aus und sprang auf. Sie hüpfte im Rhythmus der Inschrift nach rechts. Jela lief hinter ihr her, um sie im Nebel nicht zu verlieren. „Tadaa!“
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1 Metallener Beschlag an der Spitze der Schwertscheide.