1. Kapitel

 

Voyan sah sich gehetzt um. Er war auf der Flucht, und nun versuchte er, sein jämmerliches Leben zu retten. Er besaß nur sehr wenig, doch das war anders gewesen. Einst, wollte er dem verbittert anfügen. Doch es war nicht genug gewesen, das war seine feste Überzeugung. Damals wie nun. Sein suchendes Auge fand die Andeutung eines Pfades im dichten Wald. Ob hier sonst Tiere entlang gingen, oder Lebewesen? Jäger vielleicht? Er fand seine Idee, durch dieses doch weithin unbekannte Land zu reisen, plötzlich sehr, sehr dumm. Der Westen von Mojenaprolfad … wie war er nur darauf gekommen, diesen Weg zu wählen?

Der Vorteil war natürlich der, dass er damit etwas unerwartetes getan hatte. Hoffte Voyan einfach. Im Osten, der sich für zivilisiert hielt weil er Teil des Reiches der Beleni war, und der beherrscht wurde von ihren Königreichen Dunum, Serem Enersheq und Aqqot, würden die Häscher ihn sicherlich zuerst suchen. Sie würden ihre magischen Fühler ausstrecken und nach ihm tasten. Damit sie ihn nicht finden konnten hatte Voyan all seine magische Energie in die völlige Abschirmung seiner Selbst gesteckt. Sollte ihm unterwegs nun etwas zustoßen, er würde das Problem völlig ohne Magie lösen müssen.

Magie …

War es nicht genau das, wovon er viel zu wenig hatte? Waren es nicht seine Lehrmeister gewesen, die ihn und seine Möglichkeiten versucht hatten, klein zu halten? Ja, die verhassten Zauberer hatten ihn unterdrückt, hatten eine strenge Zweiteilung in das gebracht, was sie selbst vollmundig familia getauft hatten. Tatsächlich war es so, dass sie unter sich bleiben wollten und einen protegierten Kreis derer besaßen, die magisch geschult wurden, sowie eine deutlich größere Gruppe, die in diesem Schatten ihr Dasein fristen durfte. Sie lernten zu kämpfen und die Waffen zu putzen, und wenn sie sich zu Höherem berufen fühlten, so wurde ihr Flehen nicht beachtet. Oder sie wurden achtlos in den Tod geschickt. Mit einigen Angehörigen seiner Kaste war genau das geschehen. Während die Zauberer den letzten Kampf ohne Schaden überstanden hatten war der Kreis derer, die ihnen in tiefer Demut dienen mussten, doch auffällig geschrumpft, sodass Voyan überhaupt erst nachrücken konnte in diese Gruppe. Als er eintrat in diesen seltsamen Konvent, hatte er noch geglaubt, dass ihm alle Türen offen stehen würden. Schließlich hatten all diese magischen Orden einen schon fast unheimlichen Ruf. Doch wer wirklich hart lernte und alles in seine Entwicklung steckte, würde aufsteigen können in diesen magischen Zusammenschlüssen. Nicht so in seinem Konvent. War er nicht von ihrem Blute? Hatte er nicht alles dafür mitgebracht, um einer der ihren werden zu können?

Ja, wohl nicht. Nicht Geburt und nicht Übung waren es, die über das Schicksal in dieser Vereinigung entschieden, sondern einzig und allein ein Mann. Ein nach Au0en nur selten in Erscheinung tretender Magier, der sich selbst für unfehlbar hielt und sich mit göttlichem Nimbus umgab. Das war genau genommen Frevel, denn ein Gott war er sicherlich nicht. Oder etwa doch? Gab es etwas, das dafür sprach? Vielleicht sein schon fast intimer Umgang mit den magischen Wesen? Den hatten andere Zauberer auch, hieß es. Die Weißen Magier schließlich waren der Orden, der sich für den mächtigsten im Ewigen Licht der Götter hielt. Also waren ihre Hexer sicherlich weit über dem anmaßenden Narzissten seiner eigenen Kongregation anzusiedeln.

 

Einst, so würde Voyan es formulieren, war er ein Kind in einer Stadt gewesen, die – vielleicht sogar auf eine spannende Art – außerhalb der Welt Drurka lag. Kontakt hatten sie nur mit wenigen Wanderern und Händlern. Es kamen Barden zu ihnen, wie in jeden noch so abgelegenen Ort. Voyan hatten den Verdacht, die Musiker seien die einzigen Sterblichen, die tatsächlich von jeder Ansiedlung auf dieser Welt Kenntnis hätten. In jedem Fall kamen Neuigkeiten fast nur über sie zu ihnen in den Ort. Die Händler hatten nur wenig Kontakt zu dem Gros der Bewohner. Sie hatten ihre Gesprächspartner unter ihren Abnehmern, und damit war der Austausch an Nachrichten beendet. Als durchschnittlicher Bewohner der Stadt war man auf die Gnade der Leute angewiesen, die informiert waren. Ein in Voyans Augen nicht wirklich optimaler Zustand. In dürstete es nach solchen Fakten.

In ihrer Bibliothek bekam er Antworten auf alles, das wusste er. Diese Schriftensammlung zählte zu den größten der Welt. Doch das war nicht, was er wissen wollte. Nach einem kurzen Moment würde er zugegeben haben, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, welche Informationen er suchte. Daran hatte sich bis heute nichts geändert. Doch egal was es auch sein mochte: Wer würde dieses Wissen in eine Stadt tragen, die völlig abgelegen vor sich hin vegetierte und von gigantischen magischen Wesen bewacht wurde, die gleich Pfahlheiligen auf hohen, obeliskartigen Monolithen im Zentrum des Ortes thronten?

 

Zeit seines Lebens, so hatte Voyan erkannt, war niemand vorbei gekommen, der wichtige Neuigkeiten überbracht hätte. Die wenigen Barden sagen die gleichen Heldenlieder von Belenikönigen und einer Welt, die einmal mehr von den gorßen Helden gerettet worden war, jenen Beschützern der Freiheit und so weiter. Eben genau den Leuten, die ihn nicht fördern wollten, sondern in ihm einen Träger ihrer schweren Waffen sahen, jemanden, den sie vor sich stellen konnten, wenn die Lanzen der Gegner hart durch den Schildwall zu stoßen drohten. Ein Opfer eben. Das war die Rolle, in der Voyan sich nicht sah. Er wollte Magier werden, die großen Sprüche sagen können und die Geheimnisse kennen, um die der Ssremt-Orden, und ganz besonders diese familia, aus der er nun geflohen war, solch einen Wirbel machte. Das ging jedoch nur an einem anderen Ort, nicht hier auf Mojenaprolfad, das stand nun fest. Iko Oreno und auch alle anderen Mitglieder des Ordens hatten es ihm gesagt. Doch wer waren sie schon?

Voyan wusste, wer sie jedenfalls nicht waren: Allwissende Götter, deren Vorbestimmung es verlangte, dass er Schildknappe oder etwas ähnlich demütigendes sein musste. Er hatte magische Fähigkeiten, und sicherlich würde ein fähiger Magier daraus etwas entwickeln können. Er hatte noch etwas: Detailreiche Kenntnisse über die Bibliothek des Ordens. Es gab da diesen Raum, der immer von mindestens drei Leuten bewacht wurde. Niemand konnte ihn betreten, der nicht zum Inneren Kreis gehörte. Das war etwas, das sie sich ausgedacht hatten, um lernwillige Schüler wie ihn weit außerhalb dessen halten zu können, was sie selbst als große Zauber definierten. Und derer hatten sie einige. Sie waren die Wächter. Das klang jedoch nur gut, tatsächlich bedeutete es, dass ihr Orden gefragt war, wenn es wirklich ganz, ganz eng wurde für die Welt. So, wie vor einigen Jahren, als der Eine zurück gekehrt war, um sich diesen Ort endgültig zu nehmen. Oder als die schwarzen Dämonen über die Welt hergefallen waren. Kein Traum, und es geschah in diesen Tagen etwas zu oft, dass die Freiheit der Welt nur garantiert werden konnte dadurch, dass mehr oder weniger geheime Orden die Probleme lösten, die den Göttern in ihrer Planung untergegangen waren. Vielleicht sahen solche Bedrohungen im Vorfeld der Konzeption einer Vorbestimmung viel harmloser aus, einfacher zu lösen. Woher sollte er das denn wissen? In jedem Fall bedurfte es einer Instanz, solche Dinge dann wieder zu korrigieren. Und diese Gruppe verlor dabei regelmäßig Krieger und andere Leute. Magier wohl nicht. Die waren zu wichtig, die überlebten das immer und vollzählig.

An diesem Punkt angelangt musste Voyan jedes Mal zugeben, dass er das nicht wusste. Vielleicht war diese familia des Ssremt-Ordens einst mit über 100 Magiern luxuriös ausgestattet gewesen, und bei jedem verpfuschten Geraderücken der Vorbestimmung waren einige von ihnen Heim gegangen. Woher sollte er das wissen? Er hatte bei den Geschichten nie zugehört. Nur so ein bisschen. Unwohlsein beschlich ihn dann; so wenig hatte er nicht gelauscht, wenn die Lieder erkungen waren, oder wenn die Saga erzählt worden war. In den Religionskriegen von Apkalg nämlich war der Orden massiv geschwächt worden. Sie hatten Leute hinzu gewonnen, aber eben auch verloren. Eigentlich kannte er die Geschichte, und er verdrängte sie nur aktiv. Sie passte nicht in sein sorgsam gepflegtes Feindbild.

Magie. Er wollte sie beherrschen. Was er bislang konnte waren die einfachen Zauber, auf den unteren Reifestufen. Er fühlte sich jedoch zu Höherem berufen. Er wusste, dass er einer der mächtigsten Zauberer dieser Welt werden konnte. Vielleicht war es sogar so, dass er Drurka komplett in Händen halten würde. Sein magisches Reich würde vielleicht die gesamte Welt umspannen, und auch der Ssremt-Orden würde sich einordnen müssen unter diese unglaubliche Macht. Voyan fühlte sich wieder stark. Was er nicht fühlte war seine Magie. Die war fort, er hatte alle Energien in sein Verschwinden gesteckt. Egal wie intensiv sie ihn auch suchen mochten: Sie konnten ihn nun nicht mehr finden. Sie würden sich vielleicht in einer Traube von Lebewesen fragen, warum da eine Stelle war, an der einfach Nichts war, doch um sich darüber wirklich zu wundern, mussten sie schon direkt vor dieser Traube stehen und ihn nach Möglichkeit sogar sehen. Hier im Wald war er genau genommen nicht auffindbar.

Das war die Theorie, wie das in der Praxis sein mochte, konnte Voyan nicht sagen. Es war immerhin möglich, dass diese wohl doch sehr großen Magier des Ssremt-Ordens die Möglichkeit hatten, einen solchen Punkt von absolutem Nichts als das zu identifizieren, was er auch war: Die Schutzhülle eines Magiers, der nicht gefunden werden wollte. Das konnte natürlich jeder Zauberer sein, und Voyan war in ihren Augen nicht einmal das, mochte also wohl auch keine Sprüche kennen und realisieren können. Das würde sein Glück sein. Sie suchten ihn, fanden ihn nicht und mussten davon ausgehen, dass er nicht mehr auf dieser Welt war. Oder sie hatten einen doofen Trick, der durch den Schutzzauber hindurch blicken konnte. Etwas, das in der geheimen Kammer, von der niemand etwas wissen durfte, und die sie immer bewachten, lag und zu den großen Zaubern der Welt gehörte.

Dem jungen Flüchtenden wurde schwindelig. Was, wenn ihre Macht tatsächlich so groß war, wie sie behaupteten? Er war in der Stadt aufgewachsen, und er kannte Iko Oreno und einige der anderen Leute natürlich vom Sehen. Sie hatten viel gemacht in der Zeit, gealtert waren sie jedoch nicht. Das konnte auch ein übler Trick sein, der in dieser Kammer lag, das mochte jedoch auch völlig andere Gründe haben. In etwas, das mit Macht zu tun hatte, wirklicher, magischer Macht, von der er sich gar kein Bild machen konnte. Das jedenfalls hatten sie gewollt. Voyan jedoch war sehr interessiert an diesem tieferen Einblick in die geheime Welt des Ssremt-Ordens.