Prolog
„Ich kann euer Problem sehen“, sagte das Orakel mit geschlossenen Augen. „Ihr habt einen Hohlraum angegraben. Und etwas konnte entkommen daraus, das nicht hätte entkommen sollen.“
„Wie kannst du das wissen?“, fragte Eneq mit großen Augen. Rimar schlug ihn mit dem Handrücken auf den Oberarm. „Aua!“
„Wissen? Er ist das Orakel, Mann!“
„Was hier geschieht, konnte nur passieren, weil ihr das Gefängnis aufgebrochen habt. Nun müsst ihr – und nur ihr – die Lösung finden.“
„Aber wie könnte sie aussehen?“, fragte Eneq. Seine Stimme klang etwas weinerlich. Er hatte sich ein wenig mehr Hilfe vom Orakel erhofft als reine Schuldzuweisungen. Dass er und Rimar die Verantwortung für die Vorkommnisse trugen, war ihm eigentlich klar gewesen, auch wenn ein Teil in ihm sich einzureden versuchte, dass es da keine Verbindung gab und es andere Ursachen haben musste.
„Wer den schlafenden Riesen weckt hat nur eine Chance: Er muss die Krieger vergangener Tage finden. Nur sie haben die Macht, diesen Geist in seine Schranken zu weisen.“
„Die Krieger vergangener Tage?“, wiederholte Eneq den Teil, den er glaubte verstanden zu haben, ohne dass ihm der Sinn klar werden wollte. Im selben Moment schon stolperte er über seine eigene Interpretation. Doch Verstehen hatte immer zwei Ebenen. Die Worte waren ihm klar geworden, allein die Bedeutung dahinter entzog sich hartnäckig allen Versuchen, sie zu entschlüsseln.
Es herrschte Stille im Schankraum. Der Wirt lauschte nur mit großen Augen und einem jeglichem Verständnis diametral gegenüber stehenden Gesichtsausdruck. Neben Eneq und Rimar war nur das Orakel anwesend, ein Mann jenseits der 50 oder 60, mit nur wenigen langen, grauen Haarsträhnen und hellbraunen Augen, die er meist geschlossen hielt. Alle anderen Gäste gingen dann davon aus, dass er Zwiesprache mit seiner Gottheit hielt. Tatsächlich war er einfach nur müde, die Gesichter von Lebewesen zu sehen. Rimar, der kräftig wirkende Kumpan von Eneq, blickte nur konzentriert in Richtung Orakel, dessen wahren Namen niemand kannte. Vermutlich versuchte der blonde junge Mann mit den tiefblauen Augen die wirren Bilder hinter der Stirn des Orakels selbst zu entschlüsseln, um eine interpretierbare Aussage zu erhalten. Eneq machte pendelnde Bewegungen mit seinem Oberkörper; da musste doch noch etwas kommen. Kam aber nicht.
„Geht es nicht etwas genauer?“, fragte er, als er die Stille nicht mehr ertragen konnte und sicher war, einen Lidschlag später den Verstand zu verlieren. Die blassbraunen Augen des Orakels öffneten sich, fixierten den jungen, dunkelhaarigen Mann gegenüber, dessen Ungeduld die Unterhaltung mit Korpius, dem Gott des Orakels, gestört hatte. Diesmal war es die welke Hand des Sehers, deren Rücken Eneq am Oberarm traf.
„Aua!“
„Genauer? Ich bin das Orakel, Mann!“
1. Kapitel
Es war einige Monde her, als Eneq und Rimar vom Fang auf dem Meer zurück kamen. Sie hatten einige Schalentiere gefangen, und auch ein paar Fische. Alle schwammen sie noch fröhlich in großen Fässern, die um den Mast zusammengebunden waren. Erst am langen, hölzernen Steg würden sie die Tiere töten und den Käufern übergeben. Dafür würden sie Nahrungsmittel bekommen. Und vielleicht würde der alte Mann wieder zwei besonders schöne Fische für sich und seine Familie haben wollen. Die tauschte er immer gegen eine Flasche seines selbstgebrannten Traubenschnaps. Er nannte das Kayira, das machte in keiner Sprache dieser Welt einen Sinn, schmeckte jedoch, als sei es von den Göttern berührt worden. In freudiger Erwartung steuerte Rimar das kleine, oft reparierte Boot auf die bedrohlich wirkenden Berge an der Westküste von Nadej zu. Hier, zwischen den Staaten Ge und Nion, lag eine Region, die kein Staat für sich proklamierte. Was natürlich seine Gründe hatte. In erster Linie war es sehr gefährlich, hier entlang zu segeln. Untiefen hatten schon so manchen Bootsrumpf aufgebrochen und den Kahn zum sinken gebracht. Auch Rimar hatte schon einige Male die Küste nur mit großer Mühe noch erreicht, bevor der Kiel aufgesetzt hatte. Und er kannte sich in diesen Gewässern wirklich aus. Ortsfremde Kapitäne waren in der Regel ohne eine Chance. Weiterhin war es nicht wirklich leicht, an den steilen Hängen dieser Gebirgsregion zu überleben. Karger Fels wechselte sich hier nur ab mit andersfarbigem kargem Fels. In mühevoller Kleinarbeit war es den Bewohnern der Region gelungen, kleine Terrassen in den Fels zu schlagen, auf denen sich Nahrungsmittel anbauen und Häuser errichten ließen. In harter Arbeit waren Leitern und Holztreppen entstanden; das Holz dazu hatten die Bewohner anfangs noch von den regelmäßig strandenden Schiffen genommen, später waren sie beliefert worden von einigen Reedern, als Gegenleistung für den Bau eines Flaggenturms, der die Schiffe weithin warnte vor den Felsen dicht unter der Wasseroberfläche. Einer der letzten Stürme hatte dieses Gebäude jedoch endgültig eingerissen, und seither war er nicht neu errichtet worden. Die Lieferungen der Reeder blieben aus, doch Schiffe kamen dem Land auch nicht mehr zu nah. Es hatte sich mittlerweile herum gesprochen, dass auf der Höhe des Gebirges gefährliche Riffe in Küstennähe waren. Seither wurden Waren immer knapper. Doch würde es keine Katastrophe geben konnten sie überleben; da war kein König, der Steuern kassierte. Was gemacht werden musste, machten sie gemeinsam. Bis zu einem gewissen Grad klappte das, und so existierte diese Ansiedlung schon eine kleine Ewigkeit, die ihr niemand in dieser Umgebung und unter derartigen Bedingungen gegeben hätte.
In dem Moment, in dem die jungen Männer sich auf Sichtweite zum felsigen Riff in Richtung Küste tasteten, hob das Orakel in der Taverna den Kopf und gab einen klagenden Laut von sich. Der halb volle Raum war schlagartig still, und gebannt hingen alle Gäste an den Lippen des Sehers.
„Der, der verflucht ist, weil er die schwarzen Dämonen frei ließ, und der unsere Küste nahezu unschiffbar machte, wird einmal mehr seinen Fluch gegen uns senden. Sie werden in den Berg gehen, und dann über das Meer.“
Danach trank er einfach weiter von seinem Wein. Was er gesagt hatte? Unwiederholbar für das Orakel. Meistens hörte er seine Weissagungen nicht, vielleicht auch, weil er nicht mehr zuhören wollte. Sicherlich aber, weil er sie zwar sagte, aber in einem anderen Bewusstseinszustand, doch egal in welcher Verfassung er seine Sätze auch aussondern mochte, verstehen konnte er sie nicht. Korpius, der Gott des Weins im Dianischen Glauben, mochte Rätsel lieben, oder befand sich ebenso wie sein weltliches Sprachrohr auf der anderen Seite des Kreidestrichs, der den nüchternen, wachen Geist von der alkoholischen Eintrübung kategorisch trennte.
Anders die Gäste der Taverna. Von frei gelassenen schwarzen Dämonen hatte nie jemand gehört. Sicherlich mochte es mit einer Art von Damnatio Memoria1 zusammen hängen; wer solche Dinge tat wurde von den Überlebenden in der Regel totgeschwiegen, bis alles Andenken an ihn getilgt war. Warum das Orakel davon wusste, und warum es sie alle damit belastete, blieb sein Geheimnis. Was wollte das Orakel damit aussagen?
In jedem Fall war der Grund für die unheimliche Riffanhäufung identisch mit der Person, die die Dämonen befreit hatte. Wie immer er das gemacht haben mochte. Doch wenn sein Name nicht genannt werden konnte, mochte es auch der Eine sein, der Sein dunkles Heer in diese Welt des Lichts brachte, um in sodann geschaffener Dunkelheit zu herrschen. Vielleicht war Er es, der die Küste so zugerichtet hatte, damit die Heere der Magier Ihn nicht angreifen konnten. Ob dies hier verfluchtes Land war, das einst vom Heer Tumnata2 gehalten worden war, gegen die freien Völker der Welt? Den Gästen in der Taverna wurde mulmig. Plötzlich war ihnen nicht mehr nach trinken und ausgelassen reden; sie diskutierten sachlich, ernst, und jeder versuchte, sein geringes Wissen mit einzubringen. Es war nicht viel, was ihnen jemals bekannt geworden war. Da waren Erzählungen der Großeltern, die noch einen Barden erlebt hatten, der sich in diese entlegene Region der Welt verirrt hatte. Und es gab die dunkle Erinnerung an die Geschichten, die sie in ihrer Kindheit gehört hatten. Das zusammen war sehr wenig und bewegte sich nur unmerklich über dem Boden des absoluten Unwissens. Es genügte jedoch, um die Angst vor Seiner Rückkehr zu erwecken. Irgendwie war jede andere Bedrohung außerhalb aller Vorstellungskraft. Nicht weil sie zur groß gewesen wäre, sondern weil die Prophezeiung an nichts weiter denken ließ als an Ihn und Seine Rückkehr.
Eneq und Rimar kamen auf den Steg zu. Der kräftige Isheni hielt das Ruder, während Eneq sie mit einer langen Stange immer wieder vom bedrohlich näher kommenden Riff abstieß. Die Strömung war einmal mehr stärker in diesen Tagen. Schon vorgestern waren sie nur knapp der Havarie entkommen. Eine Garantie dafür, dass es ihnen wieder gelingen würde, gab es jedoch nicht. Rimars große Muskeln waren angespannt, es brauchte alle Kraft, den kleinen Kahn auf Kurs zu halten. Schweißperlen rannen sein Gesicht herunter und machten das Steuern nicht einfacher.Sie tropften von seiner Nase und in die Augen, wo sie unangenehm brannten und seine Einschätzung des Kurses, den der zu fahren hatte, trübten. Nur zur Sicherheit hielt er etwas weiter steuerbord, um dem Felsrücken backbord nicht zu nahe zu kommen. Der Wind von steuerbord drückte den kleinen Kutter jedoch unbarmherzig wieder in Richtung Riff.
Das verfluchte Meer wurde dieser weite Ozean zwischen Nadej und Sskriklard genannt. Wer einmal hier gesegelt war, ahnte woher der Name kam. Unzählige Untiefen machten es nicht leicht, ein Schiff hier entlang zu steuern. Die Felsen reichten bis knapp unter die Wasseroberfläche, und wenn das Meer ruhig war, so wie heute, konnte man ihre Position nicht einmal erahnen, da half nur die Erfahrung. Bei schwerem Seegang würde niemand, der bei Verstand war, die Passage wagen. Wie aus dem Reich der Finsternis wieder auftauchende, einst versunkene Inseln wirkten die von grünem und blauem Tang bedeckten Felsen in der Tiefe, die aus den Wellentälern hervor schauten. Oben vom Berg hatten sie es einst gesehen, von dort hatten sie einen unglaublich furchteinflößenden Ausblick auf dieses Schauspiel gehabt. An den steilen Hängen waren sie vom Unwetter überrascht worden; sie hatten Schutz gesucht unter einem Felsüberhang und sich trotzdem kaum an den Hängen halten können. Es war einmal mehr Rimars unglaubliche Kraft, die ihr Überleben gesichert hatte. Als Eneq sich nicht mehr halten konnte war es sein Freund Rimar, der nach ihm griff und sie beide gegen den schroffen Fels presste. So hatten sie dort gestanden, die Augen auf die grün-blaue, aufgepeitschte See gerichtet, die immer wieder einen langen Blick auf die Felsen der Riffs gewährte.
Wenn wir nicht hier im Berg sterben wird es dort auf See sein, übersetzte Eneq das Naturschauspiel für sich. Seit dem Tag schlief er schlechter und wachte oft aus Alpträumen auf, in denen ihr Boot gegen die Felsen im Wasser geschleudert wurde oder die gigantischen Wellen sie hoch hinauf in den Berg trugen, um ihre Leiber dort zu zerschmettern, wo sie an jenem Tag schon hätten sterben sollen. Er riss sich selbst aus den trüben Gedanken und erkannte im letzten Augenblick, dass sie dem Riff wieder gefährlich nah kamen. Geschickt stieß er das Boot ab, so dass der Rumpf heile blieb und nicht aufgeschlagen wurde von den Felsen dort neben ihnen. Einige Wolken trieben scheinbar rasend schnell über sie hinweg. Sie trübten nicht das Ewige Licht der Götter, und dennoch wollten beide Männer Boten eines aufziehenden Unglücks in ihnen sehen. Es kam in Form einer Böe über sie; das kleine Boot mit den Segeln im Wind nach diesen Luftstoß voll mit. Es neigte sich etwas nach backbord in Richtung des Riffs, und weder das Steuern noch die Stange halfen in diesem Augenblick. Hart schrappte der Kiel über den Fels, und nur die Tatsache, dass Rimar und Eneq ihn verstärkt hatten, bewahrte die beiden jungen Männer vor der Havarie. Schon in Sichtweite des Stegs schaffte der haarlose Isheni es, den Kutter wieder in die Fahrtrinne zu steuern, und Eneq stieß sie noch einmal kraftvoll ab. Sie hatten es fast geschafft und durften sich jetzt nur keine Unaufmerksamkeit mehr erlauben. Rimar erkannte den Ort, an den er anzulegen hatte. Konzentriert hielt der das kleine Fangschiff auf Kurs, als eine weitere Böe sie unerbittlich gegen das Riff drückte. Sie hörten den Rumpf knirschen und dann brechen. Eneq verhinderte, dass ihr Boot aufgeschlitzt wurde wie ein Stück Brot von einem Messer. Er stieß sie erneut ab, und sie legten die letzten Meter mit einem langsam voll laufenden Rumpf zurück. Immer tiefer lagen sie im Wasser, und als sie den Ort erreicht hatten, an dem sie sonst vor Anker lagen, setzte der Kiel auf. Sie standen.
Als sie die Segel eingeholt hatten sahen sie sich ernst an.
„Das war es mit dem Fischfang“, sagte Rimar nur. „Wir müssen noch einmal in den Berg. Ich bin sicher, dass sich dort etwas abbauen lässt, wovon wir leben können, ohne dass wir täglich mit dem Risiko leben müssen zu ertrinken, weil der Wind ungünstig steht.“
„Und du willst die Ausrüstung wovon genau kaufen?“
„Von den Fischen und Schalentieren, die wir gefangen haben“, erklärte der Isheni ruhig. Er hielt seinen Gedankengang für völlig folgerichtig und leicht nachvollziehbar. Dann sah er sich um. Niemand war am Steg. Hier hätten Menschen stehen müssen, die ihre Fische hätten kaufen wollen. Das war immer so gewesen. Bislang. Daran hatte sich offensichtlich etwas geändert. Es war unwahrscheinlich, dass sie so lange auf See gewesen waren, dass die Ruheperiode begonnen hatte. Zudem würde sich hier trotzdem zumindest eine Person befinden. Auch das war immer so gewesen. Einzige Schlussfolgerung: Etwas war geschehen. Ob es gut oder schlecht war, vermochten sie nicht zu sagen, nicht von hier aus. Die Bevölkerung konnte feiern sein, oder sich ernsthaft in der Ratshalle austauschen. Das plötzliche Fest war unwahrscheinlich, zudem waren sie nicht derartige Außenseiter, dass sie keinerlei Kenntnis davon gehabt hätten, sollte eine solche Festivität in Planung gewesen sein. Die Feier fiel also aus, stellten sie gemeinsam fest. Blieb die eher ernste Beratung. Was immer der Grund dafür sein mochte, es war kurzfristig geschehen, in den wenigen Stunden, in denen sie auf See gewesen waren.
Eneq vertäute das nahezu gekenterte Boot so am Steg, dass es nicht kippen oder gegen die hölzerne Konstruktion schlagen konnte, sondern aufrecht daneben gehalten wurde. Fast wirkte es normal, ihr Gefährt hatte nur auffälligen Tiefgang. Das konnte natürlich auch mit einer Überladung zusammen hängen; was natürlich völlig unwahrscheinlich war für einen kleinen Kutter in diesen Gewässern. Mit einem so tief liegenden Kiel wären sie unmöglich näher als ein paar Tausendschritt3 an den Steg heran gekommen. Weit im Verfluchten Meer wären sie auf einen der Felsen gelaufen, der sie leck geschlagen und sehr erfolgreich versenkt hätte. Mit sehr viel Glück und aller ihrer Erfahrung um die Fahrtrinne vor der Küste hätten sie es vielleicht geschafft, ihre nackten Leben schwimmend zu retten. Vielleicht. Denn die Felsen waren trotz des Seegrasbewuchses scharfkantig. Muschelartige Geschöpfe lebten darauf, der Stein hatte seine Kanten und Spitzen, und so manch ein Seemann, der es schwimmend versucht hatte, war mit völlig zerschnittener Haut und diversen Brüchen nur noch tot angespült worden. Die Wellen hatten die Körper, ähnlich wie den kleinen Kutter der beiden so ungleich wirkenden Freunde, immer wieder gegen die Felsen des Riffs geschleudert. Eine Weile ließen sich die Verletzungen aufgrund des verzweifelten Überlebenskampfes ignorieren, doch irgendwann ertranken die Matrosen oder wurden so gegen die steinernen Hindernisse geschleudert, dass ihnen das Genick brach. Und dann war es vorbei.
Dankbar, dass ihnen ein solches Schicksal erspart blieb, besuchten die beiden Fischer zuerst den Tempel der Myraden. Deren Häuser suchte man auf dem Rest der Welt vergeblich; einzig in der Stadt der Tempel, erbaut auf dem Plateau, das nach der Tilgung des Gipfels Shidreq vom Berg geblieben und durch die Prophetischen Bücher als Heiliger Boden geweissagt worden war, fand man ein weiteres Haus der Myraden. Obwohl es ein regional sehr beschränkter Glaube war, der sich einzig im Westen von Nadej fand, hatten diese Berggeister es bis in die Stadt der Tempel geschafft. Warum das so war vermochte niemand zu sagen,. Doch sicherlich war dieser Bau von jemandem gestiftet worden, der hier an den steilen Hängen gestrandet war und dennoch überlebt hatte. Aus der Weihung in der Stadt der Tempel ging nichts weiter hervor, und auch an den Hängen im Westen von Nadej war nichts darüber bekannt, dass es dieses Haus der Myraden in Aediri gab.
Eneq war schon als Kind oft hier gewesen; auch sein Vater hatte sich mit einem Kutter versucht über Wasser zu halten. In beiden Ebenen der Bedeutung. Zwar hatte er seine kleine Familie ernähren können – es hatte immer nur für diesen einen Sohn gereicht, die Möglichkeiten für ein zweites Kind waren nie da gewesen – doch so manches Mal war es sehr, sehr eng geworden in der nicht sonderlich breiten Fahrtrinne zum Steg. Bei ruhigem Wetter war das kein Problem, auch nicht, wenn der Wind auflandig4 blies. Doch wenn er von der Seite kam und parallel zur Küste ging, konnte er ein Boot gegen den Fels des Riffs drücken. Und von diesen meist unsichtbar unter der Wasseroberfläche schlummernden Feinden der Seefahrt gab es hier im Verfluchten Meer vor der Küste von Nadej unzählige. So war es gekommen, dass Eneq schon als Junge Dienste im Tempel verrichtete, um die Berggeister, die man hier auch als Herren über die Riffs ansah, milde zu stimmen.
Rimar dagegen war als Bergbauer aufgewachsen. Seine Eltern hatten eine kleine Terrasse bestellt, von Generationen in den Fels geschlagen und Jahr um Jahr immer wieder vergrößert, die von seiner älteren Schwester, einer attraktiven blonden Frau mit großen blauen Augen und ihrem Mann übernommen worden war. Dem jüngeren Sohn blieb nur der Weg an einen anderen Hof oder in die Bedeutungslosigkeit. Rimar hatte sich nach einer Weile in der Taverna für die dritte Möglichkeit entschieden: Er wollte zur See fahren und dort sterben. Seine Familie sollte den Verlust beweinen. Um Geld für einen Kutter zusammen zu bekommen, hatte er in Eneq einen Kumpan gefunden, der nicht nur unmenschlich viel trinken konnte, sondern auch experimentierfreudig genug war, in die Berge zu gehen, nach Adern wertvoller Metalle zu suchen. Sie hatten sie natürlich nicht gefunden, dafür waren sie bei dem Sturm beinahe gestorben. Die Idee, nach den Metallen zu graben, war jedoch in beiden nie gestorben. Oft hatten sie während der Stunden auf See darüber gesprochen, dass die Edelmetalle oder wertvollen Steine wahrscheinlich unter einer Schicht von einfachem Fels verborgen waren. Den Berg abzutragen hatten sie jedoch weder die Zeit noch die Möglichkeiten. Es musste eine Möglichkeit geben, diese Sache abzukürzen. Gelegentlich einer der vielen Ausfahrten waren sie auf die Idee gekommen, einen Stollen quer durch den Berg zu graben. Leicht aufsteigend, damit plötzlich einsetzender Starkregen sie nicht wie Ratten ersäufen würde. Der Abtransport des Abraums würde ebenfalls leichter fallen. Einzig die Ernährung würde ein kleines Problem werden. Vielleicht ließ Rimars Schwester sich erweichen, ein wenig Nahrung abzuzweigen. So würden sie eine Weile graben können, denn ihr Traum von unverhofftem Reichtum wurde stärker, je schlechter ihre Fangergebnisse wurden. An diesem Tag war ein Hochpunkt erreicht. Rimar sah gar keine andere Möglichkeit mehr, den Lebensunterhalt zu erwirtschaften, bei Eneq verhielt es sich nur wenig besser. In diesen Stunden war der Wunsch, sich dem Alkoholismus hinzugeben, jedoch seltsam niederrangig, völlig verdrängt von der Fantasie, als reiche Männer aus dem Berg zurück zu kehren. Es gab diese Geschichten von Männern und Frauen, die wertvolle Erze oder Edelmetalle gefunden hatten. Es waren nicht viele Lieder, die darüber gesungen wurden, und das hatte selbstredend einen Grund. Doch das waren Gedanken, die Eneq und Rimar in diesen Tagen nicht dachten. Die Freunde handelten, wie sie es für sich nannten. Sie packten die Ausrüstung zusammen, die sie in den letzten Jahren gesammelt hatten; der Plan war keine plötzliche, neue Idee sondern schon gereift über einige Jahre. Das wurde deutlich, als sie – unbeachtet von der in der Ratshalle diskutierenden Bevölkerung – mit ihrem schweren Gepäck den Aufstieg wagten. Hätte sie jemand in diesen Stunden beobachtet, so wäre klar geworden, dass die beiden Männer einer längst festgelegten Route folgten. Es war deutlich fassbar, dass jeder Schritt, jeder Richtungswechsel im Aufstieg exakt vorherbestimmt war. Sicherheit ging von den schwer beladenen jungen Männern aus. Dieser Eindruck ließ daran denken, dass beide diesen Weg schon oft gegangen waren. Doch es gab keine Augen, die ihnen folgten. Als die Bewohner des Bergdorfes endlich aus der großen Ratshalle kamen, fanden sie zwar das leck geschlagene und auf Grund gelaufene Boot von Rimar und Eneq, doch von den beiden Fischern keine Spur. Auch ihre Hütte war verwaist.
_________________
1Völlige Auslöschung der Erinnerung.
2Armee des Einen, Heer der Dunkelheit.
3Altes Längenmaß, das von einem Schrittmaß von 50 Zentimetern ausgeht; 500 Meter.
4Von der Seeseite in Richtung Land.